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So unselig schön

So unselig schön

Titel: So unselig schön
Autoren: Inge Löhnig
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Es wurde durch die senkrechten Streben strukturiert und lebte durch ein Spiel von Schärfe und Unschärfe. Ihr Lieblingsbild war jedoch Die Kathedrale . So nannte sie eine Aufnahme der leeren Maschinenhalle. Vicki hatte dabei aus dem Schatten heraus in den durch die zerborstenen Oberlichter beleuchteten Saal fotografiert. Waagerechte und senkrechte Stahlträger. Weiches Licht. Einige Sonnenstrahlen, die sich in der staubigen Luft fingen. Eine Birke spross aus einer Ritze des längst im Wechselspiel von Hitze und Frost geborstenen Betonbodens, wie ein anbetungswürdiges Symbol für die Kraft der Natur.
    Geiles Bild, hatte Kai es kommentiert. Kai war der Betreiber der Site und des Forums. Sie hatte ihn im April kennengelernt, als er ihr auf dem Flohmarkt eine Bratpfanne vor der Nase weggeschnappt hatte, indem er fünfzig Cent mehr geboten hatte. Krösus, hatte sie ihn beschimpft, obwohl er wirklich nicht wie der Sohn reicher Eltern aussah, eher wie ein armer Student, was er auch tatsächlich war. Das hatte sich bei einem Becher Kaffee herausgestellt, zu dem er sie eingeladen hatte, nachdem sie ihm auf der Heimfahrt in der U-Bahn erneut über den Weg gelaufen war. Kai studierte Informatik im vierten Semester; sein Hobby war das Fotografieren verlassener Industriebrachen. Er war ein Urban Explorer. Genau wie sie. Eigentlich gefiel Vicki die Bezeichnung Stadtromantiker besser, denn nichts anderes waren sie. Romantiker, die die Schönheit und Vergänglichkeit verlassener Fabriken, vom Abriss bedrohter Häuser, Hallen und Industriekomplexe dokumentierten und so in eine Zukunft retteten, in der sie nicht mehr existieren würden. Ganz legal war das nicht. Meistens begingen sie zumindest Hausfriedensbruch, um sich Zugang zu verschaffen, manchmal auch Sachbeschädigung. Aber sie klauten nichts, zerstörten nichts, sprühten keine Graffiti an die Wände und nahmen sogar ihren Müll wieder mit, egal wie viel davon schon herumlag.
    Vicki klickte sich durch die Seiten, las im Forum von einer preiswerten Taschenlampe, die es bei einem Kaffeeröster gab, und sah sich Kais neue Bilder an. Er war tatsächlich in die Schwimmhalle eines seit Jahren verlassenen Hotels in der Nähe des Wörthsees eingestiegen. Ihr gefielen die Geometrie in seinen Bildern und das Spiel mit Licht und Schatten, das er perfekt beherrschte. Eine Aufnahme hatte er am Boden des Beckens stehend gemacht. Eine Senkrechte, wo Wand an Wand stieß. Ein dunkler Schatten im Fünfundvierziggradwinkel, aus dem sich die Fugen der Fliesen in die hellerleuchtete Fläche vorarbeiteten; darauf ein winziges Moospolster, das grün aus dieser monochromen Aufnahme herausleuchtete. Ein Bild wie aus der Zeit gefallen, dachte Vicki und schrieb diesen Satz als Kommentar darunter.
    Dann kramte sie den USB -Stick aus dem Rucksack, stöpselte ihn an den Rechner und lud einige der Bilder hoch, die Adrian in der Kanalisation von Paris gemacht hatte. Lange war sie unsicher gewesen, ob ihm das gefallen würde. Letzte Nacht hatte sie jedoch alle Zweifel beiseitegeschoben. Die Bilder waren gut, und sie wollte Adrian damit ein kleines Denkmal setzen. Der Upload war dank der DSL -Leitung im Büro schneller beendet als von ihrem PC daheim, der noch mit ISDN im Netz unterwegs war. Vicki ordnete die Aufnahmen zu einer Galerie und schrieb einen knappen Text dazu. Gerade als sie damit fertig war, kehrte Steffen zurück und wenige Minuten später Clara.
    Kauend ließ Vicki Claras Erklärungen über angemessenes Outfit am Arbeitsplatz über sich ergehen. Und wie immer endeten sie in Claras Frage, wie ein derart hübsches Mädchen es nur schaffte, sich derart unmöglich anzuziehen. »Gummistiefel zu Shorts. Wie bist du nur auf die Idee gekommen? Und jetzt läufst du hier barfuß durchs Büro. Was sollen die Kunden denken? Ich habe dir etwas mitgebracht.« Clara zog eine Schuhschachtel aus einer Tüte. »Klassicher Fehlkauf. Ich habe sie nur einmal getragen. Dir müssten sie passen.« Sie reichte Vicki die Schachtel.
    Niemals würde sie Pumps anziehen. Nur über meine Leiche, dachte Vicki und musterte den Karton. Das auf der Stirnseite angebrachte Etikett zeigte allerdings Sneakers. In der Tat ein Fehlkauf für Clara. Die Größe stimmte, doch das Preisschild ließ Vicki zusammenzucken. Noch nie hatte sie so teure Schuhe in der Hand gehabt, geschweige denn an den Füßen.
    »Ich schenk sie dir, wenn sie dir passen.« Clara hatte Vickis Blick bemerkt. »Zurückgeben kann ich sie nicht, und bevor sie bei
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