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So unselig schön

So unselig schön

Titel: So unselig schön
Autoren: Inge Löhnig
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Mist. Schon so spät! Seit Vicki auf den Kauf der Monatsfahrkarte verzichtete und mit dem Rad zur Arbeit fuhr, hatten ihre Verspätungen wieder das Vorjahresniveau erreicht, und Clara Mohn, ihre Chefin, war zwar nett und leidensfähig, aber auch ihre Geduld war begrenzt und näherte sich langsam einem kritisch tiefen Pegelstand.
    Mit der Linken griff Vicki nach dem MP 3 -Player und stopfte ihn in die Hosentasche, mit der Rechten legte sie sich das Kopfhörerkabel um den Hals und öffnete das Terrarium.
    Epiktet schlief noch. Sie goss Wasser in die Schale, legte ein Stück Gurke auf den Futterplatz und pflückte ein Büschel vom Klee, den sie eigens in einem Blumenkasten für Adrians Schildkröte zog. Der Gedanke an Adrian ließ sie für einen Augenblick innehalten. Dann legte sie das Grünzeug ab, schloss die Abdeckung wieder, griff nach dem Rucksack und verließ ihre kleine Wohnung.
    Es war warm, die Sonne stand an einem makellosen Himmel. Das Rad lehnte im Hof an der Hauswand. Vicki zog die Träger des Rucksacks über die Schultern, stöpselte die Ohren zu und schaltete Johnossi an.
    Pünktlich um halb neun sollte sie an ihrem Ausbildungsplatz erscheinen. Eigentlich nicht machbar, dennoch war es einen Versuch wert. Sie schwang sich aufs Rad, fuhr verkehrt durch die Einbahnstraße und wechselte an der Brücke, die über den Hachinger Bach führte, auf die richtige Fahrspur. Während sie in die Pedale trat, nahm sie kaum die ehemaligen Bauernhäuser wahr, die inzwischen als Lager und Büros dienten oder Wirtshäuser und Restaurants beherbergten. Perlach war schon lange kein Bauerndorf mehr, es war in der Stadt München aufgegangen wie ein Eimer Wasser in einem See.
    Ba ba ba bamm bamm, ba ba ba bamm bamm, grölte Johnossi und gab so den Takt für die Trittfrequenz vor. Am Pfanzeltplatz bog Vicki Richtung Neuperlach ab, durchquerte Hochhausschluchten, überfuhr eine rote Ampel, ein Autofahrer hupte. Sie radelte die Carl-Wery-Straße entlang, ließ Siemens links liegen. Die Kanten der Gummistiefel scheuerten an den Schienbeinen, ihr Atem flog. Am Bahnübergang war natürlich die Schranke geschlossen und klaute ihr wertvolle Minuten. Um zwanzig vor neun erreichte Vicki keuchend Claras Reisebüro im Münchener Vorort Ottobrunn.
    Sie sperrte das Rad ab und betrat ihre Arbeitsstelle. Natürlich waren schon alle da. Clara saß im ärmellosen schwarzen Leinenkleid vor ihrem PC . Ihre blauen Augen leuchteten unter dem weißen Bubikopf hervor und mit einer Kette aus dicken Lapislazuliperlen um die Wette. Henriette, die gerade die Kaffeemaschine anwarf, trug roséfarbene Ballerinas, roséfarbene Caprihosen in geschätzter Größe achtunddreißig und damit geschätzte zwei Nummern zu klein und dazu eine wallende Blümchenbluse in zahlreichen Fliedertönen. Steffen, der Praktikant mit Akneproblem und Igelfrisur, wuchtete einen Karton mit Prospekten auf den Tisch.
    »Wollt’ nur sagen, ich bin da!« Vicki machte auf dem Absatz kehrt.
    »Eine Fata Morgana«, hörte sie Clara noch erwidern, bevor die Tür hinter ihr zuschlug.
    Vicki zog Gummistiefel und Socken aus, klemmte sie unter den Arm und ging barfuß zur Apotheke auf der anderen Seite des Platzes. Es bimmelte, als sie eintrat. Hinter der Theke stand eine Frau, die den Eindruck erweckte, ebenso frisch gestärkt und gebügelt zu sein wie der weiße Kittel, den sie trug. Ihr Blick glitt an Vicki herab und blieb an den Schienbeinen hängen. Dort hatten die Kanten der Stiefel aufgescheuerte Streifen hinterlassen. »Das sieht ja schlimm aus.« Sie klang besorgt.
    »Ist nicht so wild. Haben Sie Bepanthen?«
    Die Apothekerin brachte eine Packung. »Macht vier fünfzig.«
    Vicki schluckte. »Gibt’s vielleicht eine Tube für Singles?«
    Aus einer Schublade holte die Frau eine angebrochene Tube Wundsalbe und zwei einzeln verpackte Streifen Hansaplast hervor. »Dort hinten können Sie sich setzen.« Sie zeigte auf einen Stuhl, der zwischen einem Verkaufsdisplay für Sonnencreme und einer Schütte mit Sonderangeboten stand, und drückte Vicki die Sachen in die Hand.
    »Danke. Das ist echt nett von Ihnen.« Ein solcher Satz wäre ihr noch vor zwei Jahren nicht über die Lippen gekommen.
    Vier fünfzig. Das waren ungefähr null Komma sieben Prozent ihres Monatsbudgets. Sie verarztete die Wunden, bedankte sich nochmals bei der Apothekerin und ging. Aber nicht gleich zurück ins Reisebüro, sondern erst in die Bäckerei nebenan, wo sie sich eine Breze fürs Frühstück kaufte. Fünfzig
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