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So unselig schön

So unselig schön

Titel: So unselig schön
Autoren: Inge Löhnig
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Weite des Sees so intensiv empfand, die Vorstellung, dass noch etwas vor ihm lag.
    Während er das Fenster schloss, warf er einen Blick auf die Zwillingstürme der Frauenkirche. Kurz vor halb sieben. In einer Stunde würde er auf seinem Boot sitzen, die neuen Festmacherleinen auf die richtige Länge spleißen, zu Abend essen, das Klimpern der Falle an den Alumasten hören, das Geschrei der Möwen und das leise Anschlagen des Wassers am Rumpf und vielleicht zusammen mit dem Schorsch ein Glas Merlot trinken, während die Sonne unterging und das Handy hoffentlich nicht klingelte.
    Er hatte diesen Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, als es an der Tür klopfte und Gina eintrat.
    »Falls du darüber nachgedacht haben solltest, heute einen lauschigen Abend am See zu verbringen: Vergiss es.« Sie schlüpfte in ihre Jeansjacke, verstaute das Handy in einer Tasche ihrer Cargohose und förderte beinahe gleichzeitig aus einer anderen eine Banane zu Tage. »Wir haben Kundschaft.«
    Merde, fluchte Dühnfort lautlos, während er sein Sakko vom Haken an der Tür nahm. »Wo?«
    »In Solalinden. In einer stillgelegten Brauerei. Die Kollegen von der Polizeiinspektion 28 haben das schon überprüft. In einem Sudkessel liegt eine Leiche.« Gina schälte die Banane und biss hinein.
    »Ist Buchholz informiert?«
    »Ist mit seinen Jungs und dem ganzen Equipment schon unterwegs«, sagte sie kauend.
    Merde, dachte Dühnfort nochmals. Ihm war es lieber, wenn er ein paar Minuten Vorsprung hatte und sich einen ungestörten Eindruck verschaffen konnte. Auch wenn das nicht den Vorschriften entsprach und er sich daher seit Jahren einen stillen Kampf mit Frank Buchholz, dem Leiter der Spurensicherung, darum lieferte, wer als Erster am Tatort war. »Und Alois?«
    »Geht gerade zu seinem Auto. Ich dachte, ich fahre mit dir.« Gina schob den Rest der Banane in den Mund und warf die Schale in den Papierkorb. »Das war dann wohl das Abendessen.«
    Während sie die Stadt in östlicher Richtung durchquerten, telefonierte Gina mit ihrer Mutter, um ihr zu sagen, dass sie nicht zum Essen komme. Entspannt saß sie auf dem Beifahrersitz, blickte aus dem Fenster, während sie sprach, und schob gedankenverloren eine störrische Strähne ihrer dunklen Haare hinters Ohr.
    Es war einer jener seltenen Tage, an denen ein schwacher Duft nach Äpfeln von ihr ausging. Dieser Geruch erinnerte Dühnfort an seine Kindheit, an seine Großeltern im Alten Land bei Hamburg, an heiße Sommer, in denen der Himmel blauer, die Wellen höher, der Sand feiner und Omas Kuchen der beste gewesen war. Erst als Gina mitten im Satz stockte und zu ihm hinübersah, merkte er, dass er geseufzt hatte. »Alles okay?«
    »Natürlich.«
    Zwanzig Minuten später erreichte Dühnfort die Abzweigung nach Oedenstockach. Eine schmale Straße führte durch den Ort Richtung Solalinden. Weizenfelder blühten, der Mais stand kniehoch, in den Wiesen wuchsen Klee und Hahnenfuß und an ihren Rändern Klatschmohn und Schafgarbe. Dühnfort überholte eine Gruppe Rennradfahrer, durchquerte ein Waldstück und erreichte eine Ansammlung von wenigen Häusern. Die Straße verzweigte sich. Links entdeckte er in etwa hundert Metern Entfernung ein Streifenfahrzeug, davor einen der Busse der Spurensicherung und Alois’ schwarzen Mini.
    Dahinter stoppte Dühnfort und stieg aus. Auf der anderen Seite des Wegs befand sich eine zwei Meter hohe und etwa siebzig Meter lange Ziegelmauer, in deren Mitte ein zweiflügliges Tor aus verrostetem Eisen den Zugang zum Innenhof freigab. Dort parkten zwei weitere Busse der Spurensicherung. Dühnfort betrat, von Gina gefolgt, den Hof. Der Asphalt war voller Löcher und Risse. Unkraut wucherte daraus hervor. Linker Hand unterhielten sich zwei Streifenpolizisten auf der Rampe eines Gebäudes, dessen Fenster eingeschlagen waren. Das Dach war teilweise eingestürzt und derart marode, dass der nächste größere Sturm ihm den Rest geben würde. Rechter Hand befand sich ein Lattenzaun, hinter dem sich Wald erstreckte. Gegenüber begrenzte eine Mauer mit einem verrosteten Eisentor das Areal. Davor stand Alois und redete auf eine junge Frau ein, die auf einem Bretterstapel saß.
    Auf der Rampe erschien Frank Buchholz, verhüllt wie eine Raupe im Kokon, zog den Mundschutz ab und wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. Als er Dühnfort entdeckte, kam er die Treppe herunter. Der weiße Overall spannte über dem Bauch, und Dühnfort ertappte sich bei dem Gedanken, dass dieser Hülle kein
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