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So habe ich es mir nicht vorgestellt

So habe ich es mir nicht vorgestellt

Titel: So habe ich es mir nicht vorgestellt
Autoren: Batya Gur
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die Anstrengung. Und zu dem Mädchen kam man einfach nicht durch. Jo’ela blieben nur der Name auf der Patientenkartei, Henia Horowitz, und das Reagenzglas mit dem Blut, das nur die genetische Antwort geben würde. Man durfte nicht daran denken, wie es mit ihr weitergehen würde, mit ihrem Leben, ihrer Zukunft, ihrem späteren Alltag. Man durfte nicht daran denken, wie sie unter dem Schutz dieser Frauen zerbrechen würde, vertrocknen, zerfallen. Vor solchen Gedanken mußte man sich hüten, man mußte sie ignorieren wie die staunenden Fragen von Kindern über Unverständliches. Sind Läuse zu etwas gut? hatte Ja’ir gefragt, als er drei war.
    »Also vielen Dank«, sagte die Mutter, erhob sich vom Stuhl und zog das Mädchen mit sich. Die Tür machten sie nicht zu. Um das Reagenzglas würde sie sich erst nachher kümmern können.
    Im Flur saßen noch immer die beiden alten Frauen, in derselben Haltung. »Doktor«, sagte die ältere der beiden, die ältere Schwester, in demütigem Ton. »Vielleicht ist es möglich … Man muß noch einmal … Sie …«
    »Kein Problem, Sie müssen nur noch ein bißchen warten.« Jo’ela wollte schon weitereilen, da fiel ihr wieder der große Fleck auf der Stirn der älteren Schwester auf, der gesunden. Sie hatte ihn schon beim letzten Mal bemerkt, es dann aber wieder vergessen. »Was ist das?« fragte sie. »Hat das schon ein Arzt gesehen?« fragte sie, nahm das faltige Gesicht und drehte es zum Licht.
    »Das habe ich schon viele Jahre«, sagte die Alte ge-ringschätzig. Ihre kranke Schwester saß zusammengesunken da, das Gesicht mit dem leidenden und zugleich dankbaren Ausdruck erhoben.
    »Aber Sie müssen das einem Arzt zeigen«, protestierte Jo’ela. »Das ist nicht gut, was Sie da haben. Wissen Sie das?«
    »Ja, aber ich zeig’s lieber nicht.«
    »Warum nicht? Das ist nicht gut, man muß es entfernen.«
    »Ja, das müßte man«, sagte die alte Frau und nahm ihr schäbiges Kopftuch ab.
    Alle zwei Wochen kamen diese beiden mit dem Autobus her. Die Gebärmuttersenkung der jüngeren Schwester ließ sich nur mit Hilfe eines Gummirings behandeln, der die Gebärmutter von unten stützte. Eine achtzigjährige Frau, die man wegen ihrer Herzanfälle nicht operieren konnte. Jedesmal klagte die ältere der beiden Frauen darüber, doch die jüngere sprach wenig und jammerte nie. Ich sollte sie sofort behandeln, dachte Jo’ela, damit sie nicht stundenlang warten muß wie beim letzten Mal.
    Alle zwei Wochen sah sie dieses Gesicht vor sich, voller Dankbarkeit, wenn sie den Gummiring herausnahm, ihn desinfizierte und wieder neu einsetzte. Schon seit Wochen hatte Jo’ela mit der Älteren über den Fleck in ihrem Gesicht sprechen wollen, doch immer hatte sie die Jüngere zwischen anderen Fällen behandelt, auf dem Weg vom Kreißsaal zum Labor. Und immer wieder war sie, bevor sie sie endlich ins Behandlungszimmer bat, an ihnen vorbeigeeilt und hatte schuldbewußt ihre Schritte noch mehr beschleunigt. Die beiden bewegten sich nicht von ihren Plätzen und warteten mit einer Schicksalsergebenheit, der nicht der geringste Widerstand anzumerken war. Jedesmal hatte Jo’ela gesagt: Nur noch einen Moment, und sie dann für Stunden vergessen. Und beim nächsten Mal, auf dem Weg vom Kreißsaal zur Chefvisite oder zur Ambulanz, wenn sie die beiden alten Frauen wieder da sitzen sah, auf der Stuhlkante, als handle es sich um eine erwiesene Gnade und nicht um ihr gutes Recht, empfand sie Schuldbewußtsein und großes Mitleid. Dann zog sie die beiden hinter sich her ins Behandlungszimmer, als wäre sie extra ihretwegen jetzt gekommen. Auch diesmal mußte sie sie warten lassen, sie konnte den Weg zum Ultraschall nicht verschieben. »Es dauert noch ein kleines bißchen«, sagte sie und blickte sich um. »Vielleicht gehen Sie noch mal runter zur Cafeteria?«
    »Das ist nicht nötig, wir warten hier, wir haben …« Die jüngere der beiden Alten lächelte und raschelte mit der Plastiktüte, in die sie zwei Bananen und zwei Butterbrote gepackt hatten.
    »Also bis gleich«, versprach Jo’ela.
    Im hinteren Raum hatten sie schon ohne sie angefangen, obwohl sie heute Dienst hatte. Zwischen den Beinen der Kranken leuchtete die kleine runde Glatze Awitals hervor. »Haben wir nicht ausgemacht, daß ich heute dran bin?« fragte sie leichthin in den Raum, aber keiner der vier Ärzte, die auf den Bildschirm starrten, drehte sich zu ihr um.
    »Man sieht nichts«, sagte die Frau, die auf dem Untersuchungsstuhl lag und einen
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