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So habe ich es mir nicht vorgestellt

So habe ich es mir nicht vorgestellt

Titel: So habe ich es mir nicht vorgestellt
Autoren: Batya Gur
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Tag sah Jo’ela immer wieder das seltsame Gesicht des jungen Mädchens vor sich. Während der Untersuchung hatten ihre Aufregung und das Wissen, daß dies hier etwas anderes war, etwas Neues, was ihr noch nie untergekommen war, die alte Furcht überlagert, die sie von den ersten Tagen ihrer Praktikantenzeit her kannte und die sie, wie sie meinte, schon längst verloren hatte, zusammen mit der Aufregung, die sie damals, vor Jahren, dazu gebracht hatte, bei ihren ersten Entbindungen laut jubelnd das Geschlecht des Neugeborenen zu verkünden. Nun ertappte sie sich nach einer Geburt immer wieder bei einem leichten Lächeln, das von dem Gefühl der Erleichterung herrührte, daß alles gutgegangen war, und einem gewissen Ärger über die leichte Sorge, die während des Geburtsvorgangs in ihr erwacht war. Mit diesem Lächeln übergab sie der Schwester das Neugeborene, blickte dem Kinderarzt mit mäßigem Interesse über die Schulter und achtete dabei vor allem aber darauf, ob die Plazenta ausgestoßen wurde.
    Während sie von ihrem Platz hinter dem Schreibtisch aus die Mutter betrachtet hatte, mit zusammengekniffenen Augen, um sich auf ihre wirren Reden zu konzentrieren, hatte sie sofort daran gedacht, was für ein wunderbarer Zufall ihr dieses junge Mädchen gerade jetzt beschert hatte, denn nun hatte sie einen Fall, den sie im Herbst vorstellen konnte. Doch auch nachdem das Mädchen das Zimmer verlassen hatte, konnte sie das Gesicht nicht vergessen. Lang und blaß war es, wie das eines Geistes, wie ein Gesicht, das niemals von einem Sonnenstrahl berührt worden war. Auch als sie die Erinnerung zu verscheuchen suchte, um sich auf die Diagnose zu konzentrieren, auch als sie mit der Laborantin sprach, tauchte dieses Gesicht immer wieder vor ihr auf. Von dem Moment an, als sie ihre Hand auf den schmalen Bauch des Mädchens gelegt hatte, blieb die Berührung der glatten Haut an ihr kleben, und auch die Desinfektionsseife, mit der sie sich im Lauf des Tages viele Male die Hände wusch, hatte dieses Gefühl nicht entfernen können. Seltsam war nur, daß sich die Haut in dem Moment, als sie ihre nackte Hand darauflegte, angenehm angefühlt hatte, trocken wie ein glattgeschliffener Kreidestein, während sie in der Erinnerung etwas Klebriges, Kühles und Unangenehmes bekam, aalglatt und schmutzig.
    Einige Male versuchte sie, sich mit Gewalt zu konzentrieren und in Worte zu fassen, was am Gesicht dieses Mädchens eigentlich so seltsam war. Doch der Drang verschwand allmählich, und zurück blieb nur der schattenhafte Eindruck einer Brust, die sich unter den dünnen Armen nach innen wölbte, einer gebogenen Nase, eines sehr großen Mundes mit schmalen Lippen, eines mageren, ausgehöhlten Körpers.
    Das ist nicht nötig, tadelte die Mutter von ihrem Platz neben dem Untersuchungsbett aus und berührte, als Antwort auf die stumme Bewegung des Mädchens zu dem karierten Rock hinüber, die dünne Papierunterlage, die als Laken diente. Das Mädchen lag angespannt da, die Spitzen ihrer schwarzen Schuhe waren senkrecht nach oben gerichtet. Ihre langen Beine steckten noch in den schwarzen Wollstrümpfen, die Arme hatte sie eng an den Körper gelegt, die Hände zu Fäusten geballt, die Daumen unter den Fingern verborgen. Schon bei ihrem Eintritt, als sie verwirrt an der Tür stand, versteckt hinter dem breiten Rücken der schweren Frau mit dem schwarzen Kopftuch, das eine Falte in die Stirn schnitt, hatte ihr Gesicht unfertig ausgesehen, als sei noch nicht entschieden, ob es das eines Mädchens oder eines Jungen werden sollte. Die Augenbrauen waren dicht und dunkel, aber die Haut war glatt, ohne Unreinheiten und ohne jeden fettigen Schimmer. Es war eine Art erstarrter, verstaubter Glätte, und als das Mädchen auf dem Untersuchungsbett lag, beugte sich Jo’ela über ihr Gesicht wie über einen Sarkophag.
    Jo’ela unterdrückte den dringenden Impuls, die Wange zu berühren, um den Staub von der Glätte zu wischen. Sie hatte auch gezögert, bevor sie die Hand auf den Arm des Mädchens legte, um sie vom Sprechzimmer ins Untersuchungszimmer zu führen, als sei diese Haut der Rahmen für etwas, das herausfallen könnte, wenn man ihm nur die kleinste Öffnung gab, als würde die Hülle zu Staub zerfallen, und man könnte sehen, daß nichts darin war, nur ein Hohlraum. Doch das Mädchen stand auf ihren Füßen, und ihre langen Lippen zitterten, als sie sich auf Befehl ihrer Mutter auf dem Untersuchungsbett ausstreckte. »Jetzt werden wir dich
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