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So habe ich es mir nicht vorgestellt

So habe ich es mir nicht vorgestellt

Titel: So habe ich es mir nicht vorgestellt
Autoren: Batya Gur
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»Das habe ich schon lange«, und lächelte sie schuldbewußt an. So hatte sie einmal ein Händler auf einem Markt in Kairo angelächelt, um sie nicht ausdrücklich abzuweisen, als sie ein Messer verlangte, das er ihr nicht verkaufen durfte.
    »Aber Sie verstehen, daß es nichts Gutes ist, was Sie da haben«, drängte Jo’ela.
    »Das habe ich schon lange«, entschuldigte sich die Alte.
    »Sie müssen zu einem Arzt gehen«, beharrte Jo’ela, »es muß entfernt werden.«
    »Aber ich habe Angst.«
    »Wovor haben Sie Angst?«
    Die Alte seufzte. »Nun, es ist besser, es nicht anzurühren.« Sie beugte sich vor und flüsterte: »Es könnte an eine andere Stelle gehen.«
    »Was für eine Stelle meinen Sie?« fragte Jo’ela erstaunt. »Wovon sprechen Sie?«
    »Hier sieht man es jedenfalls, man kennt es«, meinte die Alte. »Und wenn man es behandelt, geht es vielleicht auf die Seite oder nach hinten oder auf den Rücken.«
    »Das geht nirgendwohin«, entschied Jo’ela. »Das ist Unsinn, Aberglaube, verstehen Sie?«
    Die Alte nickte gehorsam. Ihre Schwester stieg auf den Untersuchungsstuhl und zog ihre lange, große Unterhose herunter, bevor sie die Beine in die Lederschlaufen legte.
    Vielleicht waren es die langen schwarzen Strümpfe und der Streifen Haut darüber, die sie an das Mädchen erinnerten, denn als sie den groben Gummiring herausnahm und in die Schale mit dem Desinfektionsmittel legte, erkundigte sie sich noch einmal nach den Autobussen, die die beiden nehmen mußten, und nach ihrem Wohnviertel. Sie versuchte, sich daran zu erinnern, welche Adresse die Mutter des Mädchens angegeben hatte. Laut sagte sie nur: »Fällt es Ihnen nicht schwer, jedesmal umzusteigen, um hierherzukommen?« Und in die ergebenen, gutmütigen Antworten hinein, in diese Sätze über Kinder, die das Haus verlassen hatten, und darüber, daß sie keine Wahl hätten, weil sie den Ring allein nicht herausnehmen konnten, ließ sie ihre Frage nach der Familie Horowitz fallen.
    »Horowitz gibt es viele«, kicherte die Ältere und zählte alle Horowitz von Ewen Israel auf, Nechama Horowitz vom Lebensmittelgeschäft und die Frau des Metzgers. »Es gibt ungefähr acht Familien, die Horowitz heißen, unberufen«, schloß die Jüngere, die geduldig auf dem Untersuchungsstuhl wartete.
    »Und eine Familie Horowitz mit fünf Töchtern?« erkundigte sich Jo’ela, mit dem Rücken zu ihnen, während sie den Gummiring hin und her bewegte, um den Desinfektionsprozeß zu beschleunigen.
    Die beiden wechselten einige Sätze auf Jiddisch, wiederholten die Worte »mit fünf Töchtern«, und schließlich verkündete die Ältere, daß sie eine Familie Horowitz mit fünf Töchtern nicht kannten, aber sie würden sich erkundigen, wo sie wohnten.
    »Fünf Töchter, die älteste ist sechzehn und lernt im Beit Ja’akow.«
    »Was macht der Vater? Ist er Rabbiner? Oder Metzger?« erkundigte sich die Jüngere. Sie hätten ihr so gerne eine richtige Auskunft gegeben.
    Jo’ela zuckte mit den Schultern, sie wußte es nicht. Sie drehte den Gummiring in der Schale. »Erstaunlich, daß er hält, ein Glück«, sagte sie.
    »Ein Wunder«, bestätigte die jüngere Schwester vom Untersuchungsstuhl herüber. »Ein großes Glück. Er hat mein ganzes Leben verändert. Davor konnte ich überhaupt nicht mehr laufen.«
    Wieder sah Jo’ela das Gesicht des Mädchens vor sich, den verschleierten Blick hinauf zur Decke. Wie konnte sie ihnen sagen, daß es keine Gebärmutter gab? Daß einfach keine da war. Wieviel sie auch darüber hörte oder las, sie würde nie genau wissen, wie so etwas möglich war. Sie konnte die Untersuchungsergebnisse an alle möglichen Institute schicken, genetische und andere, aber sie würde nie genau wissen, wie es passiert war. Erstaunlich, daß dieser Wissensdrang nicht aufhörte. Auch wenn dieses Syndrom, nachdem alles gemessen und ausgezählt worden war, irgendeinen Namen hatte. Und warum ausgerechnet dieses eine Mädchen unter allen Mädchen der Welt? »Gottes Wege sind wunderbar«, hatte Margaliot, die Zigarette im Mundwinkel, erwartungsgemäß geantwortet, wie immer, und mit den Schultern gezuckt. In seinem gedunsenen Gesicht, das einmal so schön gewesen war, vertieften sich für einen Moment die Kerben über der Oberlippe. Hätte sie ihn nicht gekannt, hätte sie annehmen können, daß das Schicksal von Henia Horowitz seine Ruhe störe. Vielleicht war es besser, über seinen Ausspruch nicht zu lachen, denn eine andere Erklärung würde es nicht geben.
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