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So habe ich es mir nicht vorgestellt

So habe ich es mir nicht vorgestellt

Titel: So habe ich es mir nicht vorgestellt
Autoren: Batya Gur
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aufgeregt ihre Mutter war.
    Tante Sarah lächelte. »Ich habe gewußt, daß du rechtzeitig kommst«, rief sie mit einem triumphierenden Blick, sprang auf und umarmte Jo’ela. »Ich hab’s dir ja gesagt.« Ihr Schielen war so stark geworden, daß man nicht wußte, wen sie anblickte, Jo’ela oder ihre Mutter, bis sie schwer atmend verkündete: »Es hat schon vor Stunden angefangen, erst hat sie gedacht, es wäre einfach Bauchweh, aber …«
    »Der Professor hat sie schon untersucht, es ist alles in Ordnung«, warf Pnina ein.
    Jo’ela bückte sich und küßte ihre Mutter auf die faltige Wange. Erstaunt nahm sie den alten Duft wahr, den fast unmerklichen Hauch von Freesienparfüm, und plötzlich stand ihr wieder das Bild vor Augen: die Mutter im Schlafzimmer, zwei Tropfen hinter jedes Ohr und einen in den Ausschnitt tupfend, unter die blaue Perlenkette. Die Berührung der Wange, die immer wieder überraschte durch ihre Weichheit, und die Haut mit dem Freesienduft brachte die Frage, die großen Zweifel zum Verschwinden. Die Jahre waren weggewischt. »Alles wird gut«, sagte die Mutter, neigte den Kopf zur Seite, als erwarte sie eine Antwort, und fuhr im selben Atemzug fort: »Wie geht es dir, Jolinka, hast du ein neues Kleid? Das Kleid ist jetzt ja nicht wichtig, aber du siehst schön aus.«
    »Alles wird gut«, versprach Jo’ela, und zu Sarah sagte sie: »Du wirst einen prachtvollen Enkel bekommen.«
    »Es wird auch Zeit«, murmelte Tante Sarah. Ihr Gesicht war ganz nahe bei Jo’elas, sie strich ihr über die Haare. »Wenn man eine einzige Tochter bekommt, mit über vierzig, nach so vielen Behandlungen, und damals war es nicht wie heute, es gab keinen Ultraschall und das alles …«
    »Wer hat es euch gesagt?« fragte Jo’ela. »Warum wartet ihr jetzt schon? Das kann noch Stunden dauern.«
    »Was haben wir sonst zu tun?« meinte Sarah. »Schließlich wartet niemand auf uns.«
    »Wieso sollten wir nicht dasein, haben wir kleine Kinder zu Hause?« fragte Pnina.
    »Es kann noch Stunden dauern«, wiederholte Jo’ela ihre Warnung. »Vielleicht wartet ihr bei uns zu Hause, und ich sage euch Bescheid. Es sind nur fünf Minuten von hier, und …«
    »Mir brennt es nicht«, erklärte Sarah. »Von mir aus kann es dauern, so lange es will. Bekomme ich etwa jeden Tag einen ersten Enkel? Vielleicht will deine Mutter bei euch zu Hause warten, aber ich rühre mich nicht von der Stelle.«
    » Hak nischt in tschajnik « (Anm.: (jidd.): Hau nicht auf den Teekessel. Sinngemäß: Red keinen Blödsinn.), fuhr Pnina sie an. »Ich bin doch nicht den ganzen Weg gefahren, um zu Hause zu sitzen. Hier ist es sehr bequem, und wir haben uns belegte Brote mitgebracht, schau.« Sie deutete auf eine pralle Tüte. »Hast du vielleicht Hunger?« fragte sie plötzlich erschrocken. »Hast du heute schon was gegessen? Wo warst du überhaupt?«
    »Hier, nimm«, sagte Sarah, wühlte in der Tüte, zog einen rötlichen Apfel heraus und drückte ihn Jo’ela in die Hand. Die legte ihn in die Tüte zurück und sagte: »Vielleicht später.«
    Sarah lachte. »Deine Mutter hat darauf bestanden, daß wir unterwegs noch was einkaufen, damit wir nicht mit leeren Händen herkommen.«
    »Ich habe nichts gebracht«, sagte Pnina entschuldigend. »Ich bin mit leeren Händen gekommen, ich habe auch nichts für den Kleinen. Heute wollte ich zum Markt fahren, aber da hat diese Verrückte angerufen, und ich habe alles liegen- und stehenlassen …« Immer wenn die Mutter sich über Sarah freute, nannte sie sie diese Verrückte, wenn sie zum Beispiel an einem heißen Tag, nach einem langen Fußmarsch, unerwartet zu Besuch kam, oder wenn sie sie zu spontanen Fahrten verleitete, so wie heute. »Aber es ist wirklich dumm, für zwei, drei Fische, wo ich ohnehin keine Zeit gehabt hätte …«
    Sarah lächelte. »Wir sind im Taxi gekommen«, sagte sie mit einer Mischung aus Bedauern und Stolz. »Mit einem Spezialtaxi für lange Fahrten. Deine Mutter wollte den Bus nehmen, aber ich habe sie überredet.«
    »Wer hat es dir gesagt? Soviel ich weiß, wollte Chanale es dir erst hinterher sagen, damit du dich nicht unnötig aufregen mußt.«
    »Was spielt das für eine Rolle, was sie wollte?« sagte die Mutter. »Das hat sie nicht zu bestimmen. Wir werden ja sehen, was du machst, wenn Ne’ama … Aber das ist eine andere Zeit, eine andere Generation.«
    »Ich habe bei ihr angerufen, weil ich wissen wollte, wie es ihr geht, und niemand ging ans Telefon«, bekannte Tante Sarah. »Da
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