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So habe ich es mir nicht vorgestellt

So habe ich es mir nicht vorgestellt

Titel: So habe ich es mir nicht vorgestellt
Autoren: Batya Gur
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kleinen Garten … Ihr könntet in Ruhe einen Kaffee trinken, es dauert noch eine Weile.«
    Tante Sarah blickte von der Tüte, die aus ihrer Handtasche ragte, fragend zu Pnina hinüber. Die zögerte. »Und wenn plötzlich …«
    »Es gibt kein Plötzlich«, sagte Jo’ela zornig und fuhr dann weicher fort: »Ihr versäumt bestimmt nichts.«
    Ihre Mutter blickte sie an, eher hilflos als mißtrauisch. »Wie finden wir denn die Cafeteria?«
    »Ich bringe euch zum Aufzug und drücke auf den Knopf, und wenn ihr den Aufzug verlaßt und nach links geht, seht ihr schon das Schild«, sagte Jo’ela beruhigend.
    Sie blieb neben dem Aufzug stehen, bis sich die Türen mit einem leisen Klicken schlossen. Jemand legte ihr die Hand auf die Schulter. Zili, die Laborantin, hielt ihr einen weißen Umschlag hin. »Das ist von der Genetik gekommen, wegen des Mädchens Henia Horowitz. Du hast eine Geschlechtschromosomenuntersuchung verlangt.«
    Jo’ela dankte ihr und ging zurück. Noch auf dem Weg machte sie den Umschlag auf und schaute hinein. Sie hatte nicht vor, das Ergebnis der genetischen Untersuchung jetzt gleich genau zu studieren, sie hätte auch nicht mit dem gerechnet, was sie jetzt sah, aber die Buchstaben XY, rot markiert, brachten sie dazu, sich auf einen der orangefarbenen Stühle zu setzen und das Papier auf den Knien glattzustreichen. »XY-Chromosomen, die denen eines normalen Mannes entsprechen«, stand da. Langsam faltete Jo’ela das Papier doppelt zusammen, strich jede einzelne Kante glatt und steckte es dann in die Tasche ihres Kittels. Das bedeutete: Phänotyp weiblich, Genotyp männlich. Das junge Mädchen war ein Mann. Die äußeren Geschlechtsmerkmale täuschten, was hieß, daß man bei einer Untersuchung der Bauchhöhle Hoden finden würde. Hoden in der Bauchhöhle neigen zu bösartiger Wucherung, was wiederum bedeutete, daß man die Eltern über die Wichtigkeit einer Operation informieren mußte. Man mußte ihnen erklären, daß das Mädchen, obwohl es eigentlich ein Mann war, für immer als Frau betrachtet werden würde. Margaliot, nicht sie, würde ihnen erklären müssen, daß es möglich war, ihr durch die Unterdrückung der männlichen Geschlechtshormone fast das Aussehen einer Frau zu geben, wohingegen es nicht möglich war, sie zu einem richtigen Mann zu machen. Sie werden sie sowieso verbannen, sie werden sie wegschicken, um sie nicht mehr zu sehen, sogar wenn sie alle Schritte unternommen hatten, um sie dem Anschein nach zu einer Frau zu machen. Sie werden sie verstecken, sie verbannen, um ihren Tod beten. Das Mädchen wird sich einen Weg in der Welt suchen müssen. Und wenn sie zu ihr kam und um Hilfe bat?
    Von Unruhe gepackt, stand Jo’ela auf und lief zurück zum Kreißsaal. Elik kam ihr entgegengerannt. Schwer atmend, aber mit ruhiger, zögernder Stimme sagte er: »Ich glaube, da ist was nicht in Ordnung! Man hört plötzlich die Herztöne des Kindes nicht mehr.«
    »Bestimmt sind die Ableitungsköpfe verrutscht«, meinte Jo’ela beruhigend, beschleunigte aber ihre Schritte.
    Die Ableitungsköpfe waren nicht verrutscht, dennoch zeigte der Kardiotokograph einen deutlichen Abfall der Herztöne. Jo’ela riß die Tür auf und rief: »Monika!« Die Hebamme kam sofort herbeigerannt. »Bleib hier«, befahl Jo’ela. »Abfall der Herztöne.«
    Chanale stöhnte laut auf vor Schmerzen. Sie packte Jo’ela am Arm. »Was heißt das? Jo’ela, was bedeutet das?« fragte sie entsetzt.
    »Das werden wir gleich wissen«, versprach Jo’ela und zog sich die Handschuhe an. »Gleich werden wir es wissen«, murmelte sie und schob ihre Hand in die Scheide. »Die Fruchtblase ist geplatzt«, sagte sie langsam, aber als ihre Hand die Nabelschnur fühlte, als sie merkte, wie sie eingeklemmt wurde, während sie den Kopf des Kindes betastete, der sich auf die Schlinge schob, dachte sie an nichts anderes mehr. »Prolaps funiculi« , schrie sie laut.
    »Was ist das?« fragte Elik. »Was passiert hier?«
    »Nabelschnurvorfall«, sagte Jo’ela, schob die Hand tief hinein in die Scheide und hielt den Kopf über der Nabelschnur. »Sie liegt jetzt unter dem Kopf, deshalb ist die Blutzufuhr gestört, jetzt drücke ich den Kopf hoch. Erschrick nicht, wir müssen operieren, aber es wird alles gut.«
    »Ich rufe den Aufzug«, sagte Monika und winkte mit dem Notschlüssel.
    »Wo ist die Trage?« schrie Jo’ela.
    »Hier, sie kommen schon«, sagte Monika und rannte hinaus.
    Mirjam, die Hebamme, schaltete den Wehenschreiber ab, und
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