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So habe ich es mir nicht vorgestellt

So habe ich es mir nicht vorgestellt

Titel: So habe ich es mir nicht vorgestellt
Autoren: Batya Gur
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Die Hand war noch feucht vom Wasser des Planschbeckens. Beschämt.
     
    »Paß auf!« schrie Hila, als Jo’ela vor der Hauptstraße aufs Gas trat. Ein Auto raste an ihnen vorbei. Jo’ela riß das Steuer herum und bremste plötzlich.
    »Nichts ist passiert, nichts ist passiert«, sagte Hila in einem beruhigenden, mütterlichen Ton. Jo’ela ließ die zitternden Hände in den Schoß sinken. »Genug jetzt, was haben sie dort mit dir gemacht?«
     
    Auf dem Weg zum Krankenhaus hielt Jo’ela am Einkaufszentrum an. Hila hängte sich die Tasche über die Schulter und stieg aus dem Auto. »Bist du sicher, daß es besser so ist?« fragte sie zum dritten Mal.
    Jo’ela nickte.
    »Also in zwei Stunden?« fragte Hila. »Und wenn es mir vorher stinkt, komme ich einfach ins Krankenhaus?«
    Wieder nickte Jo’ela. Sie hätte ihr von Jo’el erzählen sollen, aber weil sie es bisher nicht getan hatte, ging es irgendwie nicht mehr.
    »Du brauchst dir keine Sorgen zu machen«, meinte Hila lächelnd, »es wird mir nicht langweilig werden. Und wenn – dann kann ich ja ein bißchen lesen, ich habe ein Buch dabei, oder ins Kino gehen.« Sie stand noch immer neben dem Auto, als falle es ihr schwer, sich zu verabschieden. Beim Anblick des Gesichts in der Fensteröffnung, der rundlichen Hand mit den abgenagten Fingernägeln empfand Jo’ela plötzlich so etwas wie Mitleid. Seit Jahren hatte sie ihr nicht gesagt, wie gern sie Hila hatte.
    Wie oft schweigen wir denen gegenüber, die uns wirklich nahestehen. Und dann sagen plötzlich eine weiße Hand oder abgenagte Fingernägel so viel. Es ist alles andere als selbstverständlich, daß Hila jetzt hier ist. Sie hat ihre eigenen Interessen beiseite geschoben, um bei dir zu sein. Wir erfinden Rituale, um mit allem fertig zu werden. Geburtstage, Todestage, Gedenktage. Manchmal aus Abwehr und manchmal aus Scham.
    Jo’ela spürte einen plötzlichen Impuls, Hila zu sagen, daß sie recht gehabt hatte. »Willst du mitkommen?« fragte sie gegen ihren Willen.
    »Nein, nein«, wehrte Hila ab. »Mach dir keine Sorgen. Nur fahr vorsichtig, bitte.«
    Jo’ela neigte den Kopf, beugte sich zum Fenster. Sie berührte die Hand. Sie hätte so gern etwas gesagt, irgend etwas. Um ihren Dank auszudrücken. Sie richtete sich wieder auf. Hila ließ das Fenster los, und Jo’ela nahm den Fuß vom Bremspedal.
     
    Im Krankenhaus wurde sie schon erwartet. Und nach der Begrüßung, dem Kaffee, den begeisterten Ausrufen der beiden Oberärzte, die sie von früher kannte, dem offiziellen Teil mit dem Chefarzt der Abteilung, dauerte es nicht mehr lange, da stand sie auch schon in dem kleinen Saal, auf dem Steinpodest, vor Reihen von Zuhörern. In den vordersten Reihen saßen einige Ärzte, die sie kannte, darunter auch eine Praktikantin, mit der sie vor Jahren, noch als Studentin, zusammengearbeitet hatte. In der letzten Reihe, nahe am Ausgang, entdeckte sie Jo’el. Er hatte den Ellenbogen auf der am Stuhl befestigten Schreibplatte aufgestützt und die Wange in die Hand gelegt. In der anderen Hand hielt er den braunen Umschlag und fächerte sich damit Kühlung zu. Es war heiß im Saal.
    Der Vortrag verlief wie geplant, der Diaprojektor funktionierte ordentlich, und kein einziges Mal legte sie ein Dia verkehrt herum ein, alles klappte. Als sie von den Karteikarten, die sie in den Händen hielt, aufblickte, um zu sehen, ob es Fragen gab, hob Jo’el die Hand. Sie wandte sich erst anderen zu – den beiden Oberärzten und der Praktikantin – und beantwortete deren Fragen, die sich um technische Aspekte bei der Untersuchung eines Fötus in der sechzehnten Schwangerschaftswoche drehten. Doch Jo’el ließ nicht locker. Sie hatte keine Wahl, sie mußte ihn auffordern, seine Frage zu stellen.
    »Frau Doktor Goldschmidt«, sagte er in den Saal, »Ihr Vortrag war wirklich sehr informativ, obwohl ich kein Arzt bin.« Alle Köpfe in dem kleinen Saal wandten sich nach hinten und blickten ihn an. »Ich bin in dieser Hinsicht ein völliger Ignorant, und vielleicht ist meine Frage auch dumm, aber etwas stört mich jetzt doch, nach dem Vortrag: Was wird man nun anfangen mit all den Informationen, die die neuen Untersuchungsmöglichkeiten bieten? Mit anderen Worten« – er hustete und hielt sich die Hand vor den Mund –, »wenn sich, nehmen wir mal an, herausstellt, daß dem ungeborenen Kind ein Finger fehlt, daß es einen leichten Herzfehler hat oder eine Hasenscharte – wollen Sie dann die Schwangerschaft abbrechen?«
    Jo’ela
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