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So habe ich es mir nicht vorgestellt

So habe ich es mir nicht vorgestellt

Titel: So habe ich es mir nicht vorgestellt
Autoren: Batya Gur
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stützte sich auf das Rednerpult, hinter dem sie stand, und schwieg einen Moment. Im Saal wurde gemurmelt, nun waren alle Köpfe erwartungsvoll ihr zugewandt. »Unsere erste Pflicht ist es, zu wissen und die Mutter zu informieren«, sagte Jo’ela mit gelassener Stimme. »Ich gehe davon aus, daß sie diejenige ist, die entscheidet. Gemeinsam mit uns, natürlich. Je nachdem, wie der Fall gelagert ist.«
    »Haben Sie nie irgendwelche Zweifel«, beharrte Jo’el, »in bezug auf den Wert dieses Wissens?«
    »Warum sollten wir?«
    »Unter anderem deshalb, weil dieses Wissen alles so bekannt macht, so offen«, sagte Jo’el und beugte sich vor, in der Hand den braunen Umschlag. »Weil das große Geheimnis verlorengeht. Man weiß alles schon vorher, nicht nur das Geschlecht des Kindes, sondern auch jedes Detail, das mit seinen körperlichen Funktionen zusammenhängt. Was sollen wir mit dem ganzen Wissen anfangen?«
    »Dieses Wissen ist sehr begrenzt, mein Herr«, sagte Jo’ela und sammelte zerstreut ihre Karteikarten ein. »Und selbst wenn das Wissen um die Wahrheit seinen Preis hat, so scheint es doch keine Alternative zu geben.«
    Er wartete am Ausgang auf sie und lächelte, als sie als letzte den Saal verließ und hinaustrat in das weite Treppenhaus. »Hier«, sagte er und hielt ihr den braunen Umschlag hin, »der gehört Ihnen, Sie haben ihn in meinem Auto vergessen.«
    Sie nahm den Umschlag, schaute hinein und steckte ihn dann in ihre Tasche.
    »Ich habe die Sachen nicht gelesen«, beteuerte er, »ich habe sie nur mal angeschaut.«
    »Ich habe schon auf sie verzichtet«, sagte Jo’ela und folgte ihm in die Kantine.
    »Wollen wir wirklich hier essen?« fragte er enttäuscht, mit einem Blick auf die lange Schlange vor der Selbstbedienungstheke und auf die Pappbecher, die vor ihnen auf dem klebrigen Tisch standen, auf die Papierservietten, die in das Plastikgefäß mitten auf dem Tisch gestopft waren.
    »Es gibt eine Klimaanlage, es gibt Kaffee, was braucht man mehr?« sagte Jo’ela spitz.
    »Vielleicht irgendeinen Zauber?«
    »Romantik? Ein Nichtwissen? Ich habe ohnehin wenig Zeit.« Sie blickte auf die Uhr. »In einer halben Stunde muß ich weg.«
    »So hatte ich es mir nicht vorgestellt«, sagte Jo’el mit einem Seufzer.
    »Wie hattest du es dir denn vorgestellt?« fragte Jo’ela laut.
    »Anders. Eher … so wie gestern abend.«
    »Und dann? Was sollte dann passieren?«
    »Ich weiß es wirklich nicht.« Jo’el lächelte, in seinen Augen tanzten braune und gelbe Blitze. »Ich habe keine Ahnung, aber ich habe gehofft …« Das offene Ende des Satzes, seine einfache Art zu reden, direkt und ohne Raffinessen, aber vor allem die kindliche, ungekränkte Freude, die ihm aus den Augen strahlte, machten all ihre Vorsätze zunichte.
    »Hoffen lohnt sich nicht«, sagte Jo’ela. »Ich bin lieber vorbereitet.« Sie spürte, wie ihre Ohren anfingen zu glühen. Eine Schande.
    »Warum?« protestierte er beleidigt. »Warum sollen wir vorbereitet sein? Was passiert denn, wenn wir aufhören zu hoffen? Was bleibt dann noch?« Er trank einen Schluck Kaffee, bevor er vorschlug: »Komm, gehen wir ein bißchen raus.«
    »Nicht heute«, sagte Jo’ela. »Heute nicht.«
    »Wann denn sonst?« fragte er sehnsüchtig.
    »Ein andermal, vielleicht«, versprach sie, wie sie es bei Ja’ir tat, wenn er wieder mal vergeblich gehofft hatte, daß aus dem Regen vielleicht doch noch Schnee würde.
    »Wenn ich dich anschaue, weiß ich genau, daß du es auch willst«, sagte er. »Und ein andermal könnte vielleicht nie passieren.«
    »Wenn es nicht passiert, ist es nur ein Zeichen, daß es nicht passieren mußte«, sagte Jo’ela und beobachtete, wie die Freude aus seinen Augen verschwand. Er stützte das Kinn auf die Hand. »Wenn es passieren soll, wird es auch passieren«, fügte sie hinzu.
    »Es muß.«
    »Dann wird es so sein.«
    Er machte den Mund auf, um zu antworten, mit einem Ausdruck zwischen Nachdenklichkeit und Trauer in den Augen. Doch in diesem Moment kam mit schnellen Schritten einer der beiden Oberärzte auf sie zu und rief: »Jo’ela! Gut, daß ich dich gefunden habe, deine Tochter sucht dich ganz dringend.« Als sie aufsprang, fügte er schnell hinzu: »Aber sie hat gesagt, daß nichts passiert ist. Sie hat nur gesagt, du sollst sie anrufen, sobald du kannst.«
    Jo’el begleitete sie zur Abteilung, zum Zimmer des Arztes, und stand neben ihr, als sie wartete, bis ihre Tochter endlich ans Telefon kam. »Gut, daß du anrufst«, sagte
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