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Snapshot

Snapshot

Titel: Snapshot
Autoren: C Robertson
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Winter den Drang, das Verlangen, Sammy Ross’ Gesicht zu sehen und zu fotografieren. Sein Gesichtsausdruck interessierte ihn mindestens so sehr wie die Wunde in seinem Bauch. Ja, das war eine verdammt kranke Angewohnheit, aber was sollte er machen? Das brauchte er nun mal.
    Es gab ein gälisches Wort, das es ihm besonders angetan hatte. Dabei kannte er nur wenige gälische Ausdrücke, die üblichen Verdächtigen wie uisge beatha und sláinte: Whisky und Prost.
    Jetzt, wo er darüber nachdachte, sagten die paar gälischen Wörter, die er draufhatte, so einiges über seine Trinkgewohnheiten. Oder über Schottland im Allgemeinen. Abgesehen von Wendungen, die in irgendeiner Weise mit Alkohol zu tun hatten, konnte er bis fünf zählen– aon, dha, tri, ceithir, coig –, und ab und zu bemühte er sein ceud mile failte, ein hunderttausendmaliges Willkommen.
    Aber sein Lieblingswort war sgriob. Er hatte es von einem alten Mann aus Skye gelernt; Lachie hatte er geheißen, ein Stammgast im Lismore. Sgriob bedeutete so viel wie Whisky-Kitzel– der erwartungsvolle Schauder auf der Oberlippe, ehe man den ersten Schluck Scotch trank. Eine brillante Erfindung. Die Eskimos mochten hundert Wörter für Schnee haben, aber auf so was konnten nur die Gälen kommen.
    Später hatte ihm ein anderer alter Haudegen erzählt, dass man sgriob drama oder sgriob dibhe sagen musste, wenn es speziell um Whisky gehen sollte. Ansonsten sprach man bloß von einem Kratzer oder einer Schramme.
    Egal. Irgendeinen Kitzel musste sich jeder verschaffen, und bei Winter war der Fall klar: Er brauchte den Tod-Kitzel. Die heiße, weiche, samtige Frau, die immer noch in seinem Bett lag, hatte seine Sucht mal als Nekrophotophilie bezeichnet. Aber mit Sex hatte es nichts zu tun, ausnahmsweise nicht. Er hatte den Tod wirklich häufig genug gesehen, und eigentlich hatte er es längst satt. Doch er konnte nicht anders, als immer wieder hinzuschauen. Und er wusste genau, was er jetzt tat: Er zögerte es hinaus. Er genoss das sgriob, die letzten Sekunden, bevor es so weit war. Wie würde der kleine Sammy in die Welt gucken? Verängstigt oder überrascht, wütend oder fragend? Und was war mit der Stichwunde? War sie hässlich oder klinisch, psychopathisch oder sauber? Wie viel Blut? Und wo?
    Die erste Leiche, die er gesehen hatte, hatte er auch fotografiert. Seine erste Schicht als Fotocop, ein Autounfall auf dem M80, ein Stück nördlich von Muirhead. Eine junge Frau, keine fünfundzwanzig Jahre alt, war mit dem Kopf voraus durch die Windschutzscheibe gesegelt. Kein Sicherheitsgurt, keine Chance.
    Sie hatten ihm schon unterwegs gesagt, was passiert war. Sein Magen hatte rebelliert, und als er sie dann endlich vor Augen gehabt hatte, hätte er sich beinahe übergeben. Eine junge Frau unter einem Schleier aus Scherben vor einem Renault Clio, einem schicken silbernen Wagen mit pinken Plüschwürfeln am Rückspiegel, die noch immer an Ort und Stelle hingen.
    Offensichtlich hatte sie im letzten Moment den Kopf eingezogen, denn sonst, erklärte ihm der diensthabende Cop, hätte sie ganz anders ausgesehen. Oben war ihr Schädel eingedrückt, das Steuer hatte ihre Brust zertrümmert, aber ihr Gesicht konnte man fast schon als makellos bezeichnen. Und auf ihrem Gesicht: ein konzentrierter, entschlossener Ausdruck. Als hätte sie alles getan, um sich zu schützen, um zu überleben. Nur den Gurt, den hatte sie nicht angelegt.
    Tony schoss ein einziges Foto, auf den Asphalt gekauert, aus ein paar Metern Entfernung. Dann wich er bis zur Absperrung zurück. Doch der Cop kam ihm hinterher und zischte ihm ins Ohr– was denn in ihn gefahren sei? Er müsse die Tote aus jedem erdenklichen Winkel ablichten, um Position, Verletzungen, Tiefen- und Größenverhältnisse und alles andere einwandfrei zu dokumentieren, und wenn er damit fertig sei, müsse er sich die Profiltiefe der Reifen, die Schleuderspuren, die Verteilung der Scherben und natürlich die verschiedenen Zufahrtswege vornehmen. Selbstverständlich erzählte er ihm damit nichts Neues, aber als Winter die Tote auf der Straße gesehen hatte, hatte sich alles, was er in der Ausbildung gelernt hatte, komplett aus seinem Kopf verabschiedet.
    Am Ende tat er, was von ihm verlangt wurde, und nicht nur das. Er fotografierte nicht nur den eingedrückten Schädel und den ramponierten Torso, nicht nur das Muster der Scherben und die Details der Bremsspur, sondern auch die geschäftsmäßigen Mienen der uniformierten Polizisten, die ein
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