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Sittenlehre

Sittenlehre

Titel: Sittenlehre
Autoren: Martin Kohan
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angeordnet hat, sich in dieser Weise aufzustellen, ist womöglich gar nicht jedem aufgefallen, jedenfalls ist sie wie keine zweite geeignet dazu, die Ansprache des Vizerektors entgegenzunehmen, ohne daß dieser übermäßig die Stimme zu erheben braucht. Auf einer Seite steht erwartungsvoll der Studienleiter – María Teresa versucht, weder seine Augenbraue noch ihn direkt anzusehen. Schließlich erscheint der Vizerektor, dem keinerlei Aufregung anzumerken ist. Er wird die Stimme nicht erheben, das hat er nicht nötig, er tut es ohnehin nie. Bei seinem Anblick muß María Teresa an die Priester aus ihrer Kinderzeit denken, in der Pfarrei von Villa del Parque: Er strahlt die gleiche unerschütterliche Ruhe aus; das vermittelt ihr ein Gefühl von Geborgenheit. Schlank ist er nicht gerade, das ist wahr, mehr wie ein Bischof oder Kardinal; und er lächelt auch nicht, niemals.Aber so wie er immer dasteht, auch jetzt wieder, die Hände vor dem Leib gekreuzt, und dazu seine getragene Sprechweise, als hielte er eine Predigt – all das zusammen verleiht ihm eine ehrwürdige Ausstrahlung, María Teresa ist sie gleich beim ersten Mal, als sie ihn erleben durfte, aufgefallen. Anders der Studienleiter: Seiner Autorität entgeht nichts, kein Stück Kreide fällt im Colegio zu Boden, ohne daß er umgehend Kenntnis davon bekäme, soweit hat er es gebracht. Anders auch Herr Biasutto: Herr Biasutto genießt Heldenstatuts unter seinen Kollegen, er verfertigte die Listen, und es gibt niemanden, der das nicht wüßte, auch wenn diese Heldentat nur als Gerücht kursiert.
    Der Vizerektor dagegen hat eine geradezu väterliche Ausstrahlung, allerdings bloß symbolisch, nicht wie bei einem wirklichen Vater – wie bei einem Priester eben, die Väterlichkeit eines Mannes ohne Kinder und ohne Erfahrungen mit dem weiblichen Geschlecht. Mit ebendieser Aura harmonisch ausgeglichener Weisheit und fast ohne Gesten drückt sich der Vizerektor aus.
    »Verehrte Aufseherinnen, verehrte Aufseher, als Vizerektor des Colegio Nacional de Buenos Aires habe ich mich gezwungen gesehen, Sie von der Erfüllung Ihrer Dienstpflichten abzuberufen, was ich sehr bedauere. Ein anderes Mittel stand mir jedoch nicht zur Verfügung. In diesem Augenblick kommt es dort draußen, auf der Straße, meine ich, zu gewissen Störungen der gewohnten Ordnung. Kein Grund zur Sorge und ebensowenig ein Grund, die normale Unterrichtstätigkeit zu unterbrechen. Dennoch ist es notwendig, für die Zeit, bis die Staatsorgane die Ordnung wiederhergestellt haben, was in kürzester Zeit geschehen sein wird, hier im Colegio eine Reihevon Vorsichtsmaßnahmen zu treffen. Sie sollen wissen, daß wir die Hauptzugänge des Gebäudes haben schließen lassen. Damit meine ich die, die auf die Calle Bolívar gehen. Bei Schulschluß, will sagen, nach Beendigung des Unterrichts sowie aller sonstigen Aktivitäten – die ausnahmslos genau wie im Lehrplan des heutigen Tages vorgesehen stattfinden werden –, werden die Schüler das Colegio deshalb durch den Ausgang auf der Seite der Calle Moreno verlassen. Der Herr Studienleiter wird Ihnen den Weg dorthin zeigen. Wichtig ist, daß Sie den Ihnen anvertrauten Schülern klare Anweisung geben, das Gebiet um die Plaza de Mayo um jeden Preis zu meiden. Die Schüler werden darauf verweisen, daß sich dort die U-Bahnzugänge befinden. Ganz egal, worauf es ankommt, ist, daß ausnahmslos alle Schüler sich vom Gebiet um die Plaza de Mayo fernhalten. Wie gesagt, die Schüler haben das Colegio durch den Ausgang zur Calle Moreno zu verlassen, und von dort ist auf direktem Wege die Avenida Nueve de Julio anzusteuern. Sagen Sie den Schülern, daß sie auf der Straße nicht laufen sollen, aber auch nicht stehenbleiben. Sie sollen nirgendwo abbiegen und keine Zeit verlieren, aber sie sollen trotzdem nicht laufen. In der Avenida Nueve de Julio angekommen, sollen sie den ersten Bus nehmen, der sie von dort wegbringt, auch wenn er nicht in ihre Richtung fährt, das spielt keine Rolle. Denken Sie daran, meine Damen und Herren, Heranwachsende sind für gewöhnlich, das liegt in der Natur der Sache, neugierig und aufsässig. Weisen Sie darauf hin, daß es untersagt ist, auch nur in die Nähe der Plaza de Mayo zu kommen, aber Vorsicht: Die Schüler sollen sich dadurch nicht zum Widerspruch herausgefordert fühlen. Nicht Neugier sollen Sie ihnen vermitteln, sondernAngst. Teilen Sie ihnen mit, daß es zur Zeit gefährlich ist, sich in die Nähe der Plaza de Mayo zu begeben. Wenn
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