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Sittenlehre

Sittenlehre

Titel: Sittenlehre
Autoren: Martin Kohan
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fragt, ob es etwas Neues von ihrem Bruder gibt. Gibt es nicht. Er hat nicht geschrieben und auch nicht angerufen. Man weiß nichts. Ein Schauder durchfährt sie.
    Als sie später – ziemlich spät – im Bett liegt und einschlafen will, gelingt ihr das nicht. So geht es ihr in der letzten Zeit ständig. Sie fährt alles auf, was ihr an Einschlafhilfen zur Verfügung steht – so wie immer ihr Nachtgebet sprechen und den Rosenkranz zwischen den Fingern halten, das reicht schon lange nicht mehr. Also versuchtsie es mit anderen Sachen, etwa, indem sie sich vorstellt, ihr Bett treibe einsam und verlassen inmitten eines eisigen Sees, oder indem sie in Gedanken die Namen und Spitznamen ihrer einstigen Mitschüler im Muttergottes-Stift aufsagt, oder sie tut so, als befände sie sich auf einer Reise, bei der sich all ihre Probleme in Luft auflösen, oder sie schaltet einfach den Verstand aus, deckt sich bis zur Nasenspitze zu und bittet Gott um Beistand.
    Eins dieser Mittel wirkt schließlich, oder sie ist irgendwann einfach so müde, daß sie von selbst einschläft. Doch wenn sie schläft, träumt sie auch. Und die Träume wecken sie unbarmherzig wieder auf. So etwa am Freitag, da träumt sie von einem Tunnel, wie auch am Samstag, da ist es ein Schacht. Und dann, ausgerechnet in der Sonntagnacht, mit der das Wochenende seinen Abschluß findet, träumt sie von einem Ozean, einem weiten, trägen Ozean, in dem zehn oder zwölf Gestalten treiben. Diese Gestalten sind Menschen, und einer von ihnen ist ihr Bruder. Nicht alle brauchen sich in gleicher Weise anzustrengen, um sich über Wasser zu halten. Ihr Bruder zum Beispiel macht überhaupt nichts: Er liegt mit dem Mund nach oben da, als befände sich unter ihm ein Bett und kein Ozean, und er behält diese Lage wie von selbst bei. Doch jemand, wer genau es ist, läßt sich nicht erkennen, steht am Ufer und hält ein paar Zettel mit Namenslisten in der Hand. Er trägt die Namen mit lauter Stimme vor. Obwohl die Entfernung bis zum Ufer groß ist, sind die Namen deutlich zu vernehmen. Ein weit weniger deutlicher Zauber stellt eine Beziehung zwischen den Namen und ihrem Schicksal her: Manche gehen unter, manche können sich retten. Noch träumend, vielleicht auch schon im Begriff, den Traum zu verlassen, sagt sich María Teresa, daßsie den gleichen Nachnamen hat wie ihr Bruder. Das versteht sich von selbst, läßt sie aber dennoch erschrocken zusammenfahren.
    Mit einem Schrei, den sie vielleicht wirklich ausstößt, wacht sie auf. Womöglich, sollte es tatsächlich so gewesen sein, hat ihre Mutter sie gehört (schon seit längerem hat sie einen ziemlich leichten Schlaf, und in der letzten Zeit schlummert sie überhaupt nur noch knapp unterhalb der Oberfläche). In der Dunkelheit ist alles still. María Teresas gequältes Erwachen findet in dem Raum um sie herum keinerlei Widerhall. Die Gardinen rühren sich nicht, die Luft steht, nur die Uhr verkündet mit ihrem beständigen Ticken den ewigen Sieg der Gegenwart.
    María Teresa setzt sich im Bett auf, läßt sich jedoch schon bald wieder in die Kissen sinken. Im Geist geht sie den düsteren Traum durch, den sie gerade durchlebt hat. Indem sie ihn mit wachem Verstand einer genauen Betrachtung unterzieht, hofft sie, sich von den beängstigenden Anklängen freimachen zu können, die er hervorgerufen hat. Sie macht sich um ihren Bruder Sorgen, um Francisco in Comodoro. Unter diese Sorge mischt sich jedoch schon bald eine zweite, die bedrückende Gewißheit, daß in wenigen Stunden, vielleicht drei, vielleicht auch vier, in diesem Zimmer der Wecker klingeln wird, woraufhin sie einen nervösen Vormittag verbringen, ohne Appetit zu Mittag essen und anschließend zum Colegio aufbrechen wird. Am bevorstehenden Tag, der genaugenommen bereits angefangen hat, wird sie ins Colegio gehen müssen, wie an den darauffolgenden Tagen auch, um dort gewissenhaft ihren Aufseherinnenpflichten nachzukommen.
    Sie wird erst wieder einschlafen können, wenn es ihrgelungen sein wird, diese unumstößliche Tatsache aus ihren erhitzten nächtlichen Gedanken zu verbannen. Stunden vergehen. Der Wecker klingelt. Er findet eine wache María Teresa vor. Wach und unaufhörlich mit dem gleichen Gedanken beschäftigt: daß sie ins Colegio gehen und dort ihren Aufseherinnenpflichten nachkommen muß.
    Die Mutter hat inzwischen schon das Radio angemacht.

Juvenilia
    Am Montag, dem 14. Juni 1982, wird Puerto Argentino eingenommen. Der Gouverneur der Inseln, der
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