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Sittenlehre

Sittenlehre

Titel: Sittenlehre
Autoren: Martin Kohan
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Parade!«
    Bestimmt haben sie schon des öfteren Kriegsfilme gesehen, daran sollten sie denken. Wenn sie das im Bewußtsein hätten, fiele es ihnen leichter, sich entsprechend zu verhalten und Herrn Vivot zufriedenzustellen, der zeitweilig vor Wut in das Mikrofon seines Apparates zu beißen scheint. Diese Filme zeigen sehr genau, was Herr Vivot von ihnen erreichen möchte: daß sich nämlich,von der Seite aus gesehen, also zum Beispiel von da, wo Herr Vivot steht, alle Arme und Beine gleichzeitig bewegen.
    »Wie ein Mann, meine Herrschaften! Alle zusammen – wie ein Mann!«
    Aber da ist nichts zu wollen. Immer ist irgendeiner mit den Gedanken woanders und folglich ein wenig zu schnell oder zu langsam, jedenfalls nicht im Takt. Kaum auszutreiben ist den Schülern auch die Angewohnheit, die Arme schlaff herabhängen zu lassen. Sie begnügen sich damit, die Arme – von denen die Finger nicht weniger schlaff herabhängen – durch ihr bloßes Eigengewicht hin und her baumeln zu lassen, statt zu machen, was Herr Vivot von ihnen verlangt: Arme steif machen und energisch vor und zurück bewegen! (Und ebenso energisch anhalten: Sobald die Füße stillstehen, hat kein Arm mehr durch die Luft zu fliegen!)
    »Nicht spazieren – marschieren! Nicht spazieren – marschieren!«
    Höhepunkt der vaterländischen Gedenkveranstaltung wird der Fahneneid sein. Läßt sich eine bessere Art vorstellen, Manuel Belgrano, der diese Fahne einst entworfen hat, die Ehre zu erweisen? Die jungen Argentinier der neuen Generation, auch die des von ihm gegründeten Colegio, werden schwören, daß sie ihr Leben für diese Fahne geben werden. Fast immer weinen die Mütter an dieser Stelle vor Rührung, während die Väter mit ihren Kodak Instamatics wie wild Fotos schießen, um den Augenblick zu verewigen. Doch auch so ein Fahneneid will gut vorbereitet sein, nicht daß die Schüler einfach daherkommen und sagen, ja, sie werden sterben, für diese Fahne werden sie sterben, um das anschließend zubeschwören, woraufhin alle Beifall klatschen, und das war’s. Schließlich ist das ein feierlicher Augenblick – bestenfalls der christlichen Taufe zu vergleichen oder der Kommunion –, bei dem sich alles um das Grab des Helden herum versammelt. Das muß man üben: Augen geradeaus heißt Augen geradeaus, woandershin sehen oder blinzeln geht nicht, nebenan kann ein Haus einstürzen – für die Schüler gilt weiterhin: keinesfalls die Augen zur Seite drehen, keine Sekunde lang, keinen Millimeter. Augen geradeaus heißt Augen geradeaus. Und beim Fahneneid heißt es dann: Aller Augen sind auf die Fahne gerichtet.
    »Wer da meint, woandershin gucken zu müssen, der kann sich gleich eine andere Schule suchen.«
    Eine wirkliche Katastrophe wäre es allerdings, wenn beim Fahneneid nicht alle wie mit einer Stimme antworten würden und sich statt dessen ein lustloser und asynchroner Ausruf vernehmen ließe. Herr Vivot weiß nur zu gut, was es allein schon bedeutet, die nicht richtig dazupassende Stimmlage der Mädchen auszugleichen. Mit und ohne Megaphon feuert er die Schüler an. Er sagt, sie sollen gefälligst daran denken, was sie da eigentlich schwören: die Fahne zu ehren, ihr Leben dafür zu geben. Er sagt, die Antwort soll von Herzen kommen, er sagt, sie sollen in der tiefsten Seele empfinden, was es heißt, ein Argentinier zu sein. Dann läßt er sie üben.
    »Ja, ich schwöre!«
    Noch mal.
    »Ja, ich schwöre!«
    Falls nötig, heizt Herr Vivot ihnen noch stärker ein: Sie sollen keine Schlappschwänze sein, sagt er, keine Schwuchteln. Laut und deutlich, mit Nachdruck. Mansoll es richtig hören können. Richtig hören. Dann hält er sich wieder das Megaphon an den Mund. Wiederholt die Worte. Ohne die Pause zu vergessen. (Die Pause ist von grundlegender Bedeutung: Es soll nicht so wirken, als würden sie einfach nur einen Schwur abspulen, als käme ihre Antwort bloß automatisch.) Dann lauscht er aufmerksam.
    »Ja, ich schwöre!«
    Noch mal.
    »Ja, ich schwöre!«
    Und noch mal.
    »Ja, ich schwöre!«
    Und noch ein letztes Mal.
    »Ja, ich schwöre!«
    In der Tür an der Ecke, da wo es zum Gang der Primaner geht, erscheint Herr Biasutto. Offenbar interessiert er sich für das Marschierenüben. Sorgfältig nimmt er die Ausrichtung der Reihen in Augenschein, mit absolutem Gehör überprüft er den perfekten Zusammenklang der Stimmen beim gemeinsamen Schwur. Er geht zu Herrn Vivot und wechselt ein paar Worte mit ihm. Von weitem grüßt er auch die anwesenden
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