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Sittenlehre

Sittenlehre

Titel: Sittenlehre
Autoren: Martin Kohan
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indem sie die Gedanken schweifen läßt, begreift María Teresa, wie anders sich ihre Aufgabe unter den gegenwärtigen Verhältnissen darstellt. Sie will sich nicht messen, auf die Idee, es mit so angesehenen Persönlichkeiten der Vergangenheit aufnehmen zu können, käme sie nicht; sie erlaubt es sich bloß, während sie wie abwesend vor sich hin starrt, daß die eine oder andere Idee aus dem Verborgenen hervorkommt und sich mit einer zweiten verbindet, die sich ihrerseits davonstiehlt und mit wieder einer anderenverbindet, und in diesem Hin und Her bildet sie sich eine Vorstellung davon, wie die Schule gewesen sein mag, als sie noch ein kompaktes und harmonisches Ganzes war, damals, vor mehr als hundert Jahren, zu einer anderen Zeit.
    Diesmal überrascht sie das Klingelgeräusch – eigentlich wissen alle immer ziemlich genau, wann es soweit ist. Die Pause ist zu Ende. Das Klingeln, das kraftvoll, aber nicht schrill tönt, dauert exakt fünfundfünfzig Sekunden, also etwas kürzer als eine Minute. Jeder weiß das. Aus einem ganz bestimmten Grund ist es ratsam, dies zu wissen, wie es auch ratsam ist, sich auf die genau bemessenen fünfundfünfzig Sekunden einzustellen, statt sich mit der vergleichsweise vagen Zeitspanne von einer Minute zu begnügen, denn genau in dem Augenblick, in dem das Läuten verstummt – der Nachhall wird nicht dazugerechnet –, haben die Schüler fertig aufgestellt dazustehen, in völligem Schweigen, nach Körpergröße angeordnet, jede Klasse vor dem Eingang zu ihrem Klassenraum.
    Die zehnte Obertertia stellt sich vor der vorletzten Tür im Gang auf. Nicht selten hört man nach dem Verstummen der Klingel noch ein Scharren, ein Auftreten, manchmal sogar ein Lachen, woraufhin die Aufseher einzuschreiten haben.
    »Ruhe.«
    Und dann wird es wirklich still. Handelte es sich bei dem, was außerhalb der erlaubten Zeit zu hören war, nur um einen verspäteten letzten Schritt, ist sicherzustellen, daß die Schüler anschließend tatsächlich wie vorgesehen ruhig dastehen. Handelte es sich dagegen, was schwerer wiegt, um ein Lachen, ein Lachen oder eindem Lachen ähnliches Geräusch, gilt es, den Spaßvogel, der sich höchstwahrscheinlich zu weiteren Scherzen verlockt fühlt, ausfindig zu machen und vortreten zu lassen, um ihm seine Strafe zu verabreichen. Für gewöhnlich verrät sich der Betreffende in solchen Fällen durch seinen gesenkten Kopf.
    Im Normalfall wird der Aufforderung jedoch ohne weitere Störung Folge geleistet.
    »Abstand nehmen.«
    Eine Stimme erklingt für den gesamten Gang. Weil die Decken so hoch oder die Wände so dick sind, ist es, als würde die Stimme widerhallen und sich vervielfältigen, aber jeder weiß, hier ist nichts wiederholt worden, die Befehle werden nur ein einziges Mal ausgesprochen, das reicht. »Abstand nehmen« ist eines der grundlegenden Dinge, die die Schüler des Colegio lernen müssen. Auch wenn sie sich in Zweierreihe aufgestellt haben, nach Körpergröße, bei den Kleinsten beginnend – solange sie nicht Abstand nehmen, wirkt das Ganze unordentlich, als wären zwar alle anwesend, aber noch nicht angetreten, es hat etwas Nachlässiges, und dagegen muß unbedingt eingeschritten werden. Sobald die Schüler Abstand genommen haben, bekommt die Aufstellung jedoch etwas Geradliniges und Ausgeglichenes, erlangt eine – im übrigen höchst angemessene – genaue Symmetrie. Hierfür ist es notwendig, daß man den rechten Arm ausstreckt, oder vielmehr durchstreckt, und die Hand oder besser noch die Fingerspitzen auf die rechte Schulter des Vordermannes legt. Nachdem dieser Vordermann per definitionem kleiner ist als der, der hinter ihm steht, bildet jeder Arm eine vollkommen gerade Linie, die allerdings zugleich sanft absteigt. So macht man das, heute und für allezeit.So stellen sich die zwei Mädchenreihen auf, dahinter die Jungen. María Teresa achtet besonders sorgfältig – zugleich aber möglichst unauffällig – auf die heikle Stelle, wo die ersten beiden Jungen, die auch die Kleinsten sind, hinter den letzten beiden Mädchen stehen, den beiden größten. Die kleineren männlichen Schüler haben im allgemeinen noch etwas Kindliches, Bartwuchs zeigt sich bei ihnen noch nicht, oder so gut wie nicht, während die größeren Mädchen immer auch die am stärksten entwickelten sind. Sobald es heißt »Abstand nehmen«, müssen die entsprechenden zwei Jungen – in der zehnten Obertertia sind das Iturriaga und Capelán – die Hand oder besser noch die
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