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Sittenlehre

Sittenlehre

Titel: Sittenlehre
Autoren: Martin Kohan
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heute?«
    »Nein, Fräulein Aufseherin.«
    »Dann nehmen Sie doch Abstand, wie es sich gehört.«
    Capeláns wie schwerelose Hand, die er mit gespielter Unschuld ausstreckt, als ginge ihn das alles nichts an, nähert sich Marrés Schulter, dem Bereich, wo der vorschriftsmäßig blaue Pullover eindeutig und unzweifelhaft eine abgerundete Auflagefläche bildet. Zielgerichtet kann man das allerdings kaum nennen, eher schon vage, vor allem aber scheint die Hand in verdächtiger Weise darauf bedacht, es keinesfalls zu einem Aufliegen kommen zu lassen, und so zögert sie, es ist weniger ein Berühren als ein Tasten, ja ein Abtasten, als wäre Capelán blind, weswegen es auch passieren könnte, daß diese Hand – María Teresa kommt es jedenfalls so vor – statt auf Marrés Schulter auf Marrés Kragen stößt, auf die Kragenfalte von Marrés vorschriftsmäßig hellblauem Hemd, oder schlimmstenfalls auf Marrés Hals, auf die Haut an Marrés Hals, und damit auf Marré selbst.
    »Fühlen Sie sich nicht gut, Capelán?«
    »Doch, Fräulein Aufseherin.«
    »Haben Sie was an der Hand? Die zittert doch, Capelán.«
    »Nein, Fräulein Aufseherin.«
    »Sind Sie sicher, Capelán?«
    »Ja, Fräulein Aufseherin.«
    »Dann ist es ja gut.«
    Derweil verstreicht, zusammen mit dem Herbst, der langsam in den Winter übergeht, María Teresas erstes Jahr als Aufseherin am Colegio. Angefangen hat sie imFebruar, da war es noch heiß, drei Wochen vor den März-Prüfungen und sechs vor Schuljahresbeginn. Zunächst hatte sie ein Vorstellungsgespräch beim Studienleiter, der entschied, daß sie angestellt werden solle. Dann erklärte ihr der Oberaufseher Herr Biasutto in einer Unterredung, die nicht länger als fünfzehn Minuten dauerte, wie sich die Überwachung der Schüler des Colegio am besten bewerkstelligen ließ, wozu er ihr eine Reihe von Tips mit auf den Weg gab. Gar nicht so einfach war es, Herrn Biasutto nach, »das richtige Maß« zu finden. Das richtige Maß, um die wirkungsvollste Überwachung zu erreichen. Ein wachsamer Blick, dem nicht die geringste Kleinigkeit entging, so vollkommen aufmerksam war er, trug sicherlich dazu bei, daß keine Regelwidrigkeit, kein einziger Verstoß unbemerkt blieb. Ein in dieser Weise wachsamer Blick konnte allerdings, eben gerade aufgrund seiner Wachsamkeit, seinerseits zwangsläufig nicht unbemerkt bleiben und wurde insofern unweigerlich zu einer Art Warnsignal für die Schüler. »Das richtige Maß« bestand folglich in einem Blick, der nichts übersah und der doch zugleich selbst ohne weiteres übersehen werden konnte. Die Lehrer kannten das Problem nur zu genau. Deshalb stellten sie sich während einer schriftlichen Prüfung auch immer an die Rückwand des Klassenraums: So kann man sehen, ohne gesehen zu werden. Schon am flüchtigsten Seitenblick eines Schülers läßt sich dabei seine Absicht, beim Banknachbarn zu spicken, erkennen. Die Aufseher mußten sich eine ebenso große Geschicklichkeit aneignen, um das gleiche Maß an unüberwindlicher Diskretion zu erreichen. Aber nicht um »hinzusehen, ohne etwas zu sehen« – wie man es unaufmerksamen Menschen nachsagt –, sondern im Gegenteil,um zu sehen, ohne hinzusehen, um alles sehen zu können, obgleich man doch scheinbar nirgendwo hinsieht.
    María Teresa setzt diese Ratschläge, die Herr Biasutto ihr am ersten Arbeitstag darlegte, am Ende jeder der drei nachmittäglichen Pausen um, und zwar, wenn es heißt »antreten«, »antreten und Abstand nehmen«. Herrn Biasuttos Hinweise helfen ihr, um diesen scheinbar so gleichgültigen Schüler mit Namen Capelán unter Kontrolle zu halten. Außer Iturriaga sind alle seine Mitschüler, seine männlichen Mitschüler, größer als er, deshalb ist er, neben Iturriaga, der erste in der Jungenreihe. Genau vor ihm steht Marré. Er kann sie berühren, das ist erlaubt. Aber nicht nur erlaubt, es ist vorgeschrieben. Er muß sie mit der Hand an der Schulter berühren, besser noch mit den Fingerspitzen, um korrekt Abstand zu nehmen. María Teresa tut derweil, als sähe sie bald hierhin, bald dorthin, es soll aber nicht unaufmerksam wirken, das wäre unglaubwürdig, es soll vielmehr so aussehen, als sähe sie in gleicher Weise überallhin.
    Natürlich achtet sie dabei sehr genau darauf, was sich zwischen Capelán und Marrés Schulter abspielt, zwischen Capeláns Hand – Capeláns Fingern – und Marrés Schulter. Sie tut, als sähe sie gleichermaßen überallhin, in Wirklichkeit jedoch konzentriert sich ihr Blick
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