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Sittenlehre

Sittenlehre

Titel: Sittenlehre
Autoren: Martin Kohan
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da sie die Antwort im Grunde schon kennt –, ob das ein Brief von ihrem Bruder sei. Die Mutter bejaht. Und sagt, sie habe ihn diesmal nicht selbst öffnen wollen, damit es ihr nicht ergeht wie sonst: daß sie nämlich – noch bevor sie überhaupt zu lesen beginnt – zu weinen anfängt, kaum daß ihr Blick auf die Handschrift des Sohnes fällt, der zur Zeit nicht zu Hause ist. Lieber soll Marita den Brief lesen und ihr dann sagen, was drinsteht, das ist besser.
    María Teresa reißt mit zwei Fingern die eine obere Ecke des Briefumschlags ab. Dann schiebt sie das Messer, das eigentlich für den Käse oder die Butter gedacht war, in die Öffnung und schlitzt den Umschlag auf. Die Muttersieht ihr nicht dabei zu. Genaugenommen steckt kein Brief, sondern eine Postkarte in dem Umschlag. Francisco macht derlei Späßchen öfter. Eigentlich ist er gar nicht weit weg, gerade einmal in Villa Martelli. Sie brauchten bloß bis Pacífico zu fahren und dort entweder in den Hunderteinundsechziger (mit rotem Schild) oder besser in den Siebenundsechziger zu steigen (Farbe des Schildes egal), und in nicht einmal einer Stunde stünden sie vor dem Kasernentor. Das würde aber nichts nützen, deswegen tun sie es auch nicht, sie würden Francisco nicht zu Gesicht bekommen, geschweige denn sich mit ihm unterhalten können. Trotzdem ist er immer noch ziemlich in der Nähe, eben in einem Außenbezirk. Er spielt jedenfalls gerne den Witzbold, tut so, als ginge es ihm prima, und darum schickt er ihnen eine Postkarte, als befände er sich weiß Gott wo. Bestimmt hat er sich die Karte von einem seiner Kameraden geben lassen oder sie ihm abgekauft – von einem irgendwo aus der Provinz, der sich einen ganzen Stoß besorgt hat, um die Karten nach und nach an seine Familie zu senden. Einer aus dem Süden oder vielleicht auch aus Formosa. María Teresa zieht die Karte aus dem Umschlag. Eine Aufnahme aus Buenos Aires. Der Obelisk aus der Vogelperspektive, im strahlenden Sonnenlicht, umgeben vom dichten Verkehr auf der breitesten Straße der Welt, zu den Seiten die nicht besonders hohen Häuser, keins gleicht dem anderen.
    María Teresa dreht die Karte um, auf der Rückseite stehen gerade einmal sechs Wörter, in der Handschrift ihres Bruders. »Irgendwann komme ich schon noch drauf«, liest sie.
    María Teresa sieht sich noch einmal den Obelisken an; ein roter Bus, den sie zuerst nicht bemerkt hatte, fährtauf einer Seite daran vorbei. Sie steckt die Karte wieder in den Umschlag und legt ihn zurück unter die Plastikvase. Die Plastikblumen darin sind auf unnatürliche Weise verbogen, mit den Blumen, die sie nachahmen sollen, haben sie nicht mehr die geringste Ähnlichkeit. María Teresa versucht sie zurechtzubiegen, aber das funktioniert nicht: Als verfügten sie über ein Gedächtnis oder hätten bestimmte Vorlieben, wie Menschen, nehmen die Plastikstengel zuletzt unweigerlich ihre trübsinnige Ausgangsstellung ein.
    Die Mutter hat derweil einen Deckel auf den Topf mit der roten Bete gelegt; jetzt dreht sie sich um und lehnt sich an die Tischkante. In den Händen hält oder vielmehr knetet sie einen Topflappen mit lauter roten Herzen darauf.
    »Und, was sagt Francisco, Marita?«
    María Teresa legt das Messer wieder auf den Teller, zu den Krümeln und dem schlaffen Teesieb.
    »Es geht ihm gut. Wir fehlen ihm, aber es geht ihm gut.«

Der Hort der Aufklärung
    »Besser wäre er gestorben«, sagt die Mutter und bekreuzigt sich, weil sie weiß, daß es eine Sünde ist, so etwas zu sagen. Besser wäre er gestorben, statt einfach wegzugehen, wohin genau, weiß keiner. Dann gäbe es wenigstens ein Papier, und auf dem Papier eine amtliche Mitteilung, und damit hätte der arme Francisco sich die furchtbare Kälte erspart, die durch alle Ritzen dringt, und das Essen, das sie einem auf Aluminiumtellern servieren, davon wird man bloß krank. Drei, wenn nicht vier Wochen, so lange dauert die Grundausbildung, wird er keinen freien Tag haben, kein einziges Mal Ausgang, nur einmal darf er um sieben Uhr morgens an den Ausgang an der Avenida San Martín kommen und sich eine Viertelstunde lang mit seiner Familie unterhalten, unter freiem Himmel.
    Die Mutter fängt mindestens einmal am Tag zu weinen an. Manchmal hört María Teresa es von ihrem Zimmer aus, manchmal hört oder sieht sie nichts davon, merkt es aber trotzdem. Oft fängt sie an zu weinen, wenn im Radio die Nachrichten kommen, wenn es im Wetterbericht heißt, es wird kalt, und Nachrichten kommen jede
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