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Sittenlehre

Sittenlehre

Titel: Sittenlehre
Autoren: Martin Kohan
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fest zugezogen und das hellblaue Hemd bis zum obersten Knopf geschlossen haben oder, um ein weiteres Beispiel zu geben, ob die weiblichen Schüler tatsächlich das Haar mit einer Spange zusammengebunden und die hellblauen Blusen mit der vorgeschriebenen doppelten dunkelblauen Schleife verschlossen haben. Davon abgesehen hat das Betragen der Schüler des Colegio Nacional de Buenos Aires egal wo und unter allen Umständen vorbildlich zu sein, wie die Aufseher auch dazu verpflichtet sind, gegen jegliches regelwidrige Benehmen eines Schülers des Colegio einzuschreiten, wo auch immer dieses Benehmen erfolgt, und die Schulleitung unverzüglich davon in Kenntnis zu setzen, sei es den Herrn Studienleiter, sei es den Leiter der Aufseher. Was sich am Beispiel einiger Schüler der fünften Obersekunda hervorragend veranschaulichen läßt, die am Ende des vergangenen Schuljahres gemaßregelt wurden: In der Calle Florida, der am dichtesten bevölkerten Straße der Stadt, hatten sie ein in gravierender Weise vorschriftswidriges Benehmen an den Tag gelegt, dabei aber nicht bemerkt, daß ein – rein zufällig dort vorbeikommender– Aufseher des Colegio ihre lauthals geäußerten Flegeleien gewissenhaft aufzeichnete.
    Derlei Anforderungen veranlassen die frischgebackene Aufseherin María Teresa zu gründlichem Überdenken einer Eigenschaft, durch die sie sich ihr Leben lang ausgezeichnet hat, schon als Kind, wie ihre Mutter aus Erfahrung sagt und ihr Vater aus Erfahrung sagte: Es kommt nämlich immer wieder vor, daß sie einfach wegträumt, sich von irgend etwas vollkommen ablenken läßt. Um so mehr bemüht sie sich nun, zu lernen, stets aufmerksam zu sein, weshalb sie sich in allen möglichen körperlichen wie auch geistigen Techniken übt, die ihr helfen sollen, ihre alte Gewohnheit zu überwinden, sich von den Dingen, die ihr gerade durch den Kopf gehen oder vor ihren Augen vorbeiziehen, mitreißen zu lassen. Bei der Sache sein – so gut und so lange es irgend geht. Darum bemüht sie sich vor allem im Colegio selbst – während der Pausen auf den Gängen und nach Pausenende im Klassenraum, bis auch die Lehrer dort eintreffen –, aber ebenso draußen, vor dem Colegio – wie es der Herr Studienleiter ja seinerzeit erläutert hatte –, an der Straßenecke oder am U-Bahneingang oder beim Kiosk oder am Blumenstand.
    Und bei einem dieser vorbeugenden Erkundungsgänge wird sie auch, als sie um fünf vor eins wie zufällig den Bürgersteig vor dem Colegio entlangläuft, wo die Schüler sich treffen, bevor sie die Schule betreten, zur Zeugin eines unzulässigen Verhaltens: Sie sieht, daß die Schülerin Dreiman sich auf einmal ganz eindeutig bei Baragli anlehnt. Bis dahin wirkte alles ganz normal, unschuldig, friedlich, und María Teresa hätte, sosehr es ihr widerstrebt, glatt ihrer größten Schwäche nachgegeben – sie war kurz davor, wegzuträumen. Doch da bemerkt siees: Inmitten all der korrekt geknoteten Schlipse und vorschriftsmäßig gebundenen Schleifen sieht sie, was sie nicht sehen soll und darf – Dreiman, die sich eindeutig an Baragli lehnt. An Baraglis Körper, so als wäre der eine Wand oder das Schild einer Bushaltestelle oder ein Laternenmast. Sie lehnt sich aber an keine Wand und auch an kein Schild, sondern an Baragli. Einen maßvollen Tadel – wer wird denn da so nah beieinanderstehen, wer muß denn da schon wieder den starken Mann spielen – hätte das verdient, auf María Teresa jedoch wirkt es wie ein schriller Mißklang inmitten einer durch nichts getrübten Harmonie. Und ihre Reaktion folgt auf dem Fuße, sosehr sie der Anblick schmerzt oder gerade weil er ihren Augen so weh tut. Mit raschen Schritten nähert sie sich der Stelle, wo sich das Geschehen vollzieht, dem sie Einhalt gebieten möchte. Entschlossenes Handeln, darauf kommt es jetzt an, Feinheiten sind hier nicht so wichtig. Hier geht es nicht darum, daß ein Capelán womöglich eine Marré zu streicheln versucht – solche Herausforderungen ihrer Beobachtungsfähigkeit und Diskretion stellen sich ihr erst wieder beim nachmittäglichen Antreten der Schüler. Darum geht es hier nicht, sondern um eine Schülerin mit Namen Dreiman, die sich eindeutig an ihren Mitschüler Baragli lehnt, in völliger und unbezweifelbarer Hingabe. Da heißt die Aufgabe nicht, abwägen, da gilt es nicht, einen Tatbestand festzustellen; im Gegenteil, hier heißt es einschreiten, und zwar unverzüglich und mit allem Nachdruck.
    »Dreiman, stellen Sie sich hin, wie es
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