Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sinfonie des Todes

Sinfonie des Todes

Titel: Sinfonie des Todes
Autoren: Armin Öhri / Vanessa Tschirky
Vom Netzwerk:
Die Turmuhr schlug eins und Wilhelm hoffte, noch ein paar Stunden schlafen zu können. Mit gerunzelter Stirn nahm er wahr, dass die Farbe an der massiven Eingangstür abblätterte, und er fragte sich, warum ihm dieser Umstand gerade jetzt auffiel. Er strich mit der Fingerspitze über die raue Stelle und zuckte kurz zusammen, als ein Splitter in sein Fleisch drang. Seine andere Hand lag auf der Türklinke, doch er brachte es noch nicht über sich, sie hinunterzudrücken. Er dachte an seinen Bruder Robert, der den Brief inzwischen erhalten haben musste. Konnte dieser ihm helfen? War er überhaupt bereit dazu, nach allem, was geschehen war?
    Wilhelm sog die kühle Nachtluft tief ein und öffnete die Tür. Stille und Dunkelheit empfingen ihn; von Lina war nichts zu hören. Er wollte kein Licht machen und tappte daher mit ausgestreckten Armen in Richtung Treppe, die in den oberen Stock führte. Endlich erreichte er das Geländer, das leicht wackelte, als er es berührte. Fichtner folgte der geschwungenen Linie und schritt Stufe für Stufe vorsichtig in die Höhe. Als die vorletzte erwartungsgemäß ihr lautes, hallendes Geräusch von sich gab, als er auf sie trat, hielt er inne und horchte. Doch nichts rührte sich in dem weitläufigen Haus. Wilhelm erschien es, als sei es leer, ganz ohne Leben, ohne Körper, ohne Seele. Ohne Lina. Er schüttelte das Gefühl ab, betrat den Korridor und folgte ihm bis zu seinem Schlafzimmer, das er schon seit Monaten nicht mehr mit seiner Frau teilte.
    Nachdem Fichtner ein Licht entzündet hatte, öffnete er eines der hohen Fenster, ließ sich in einen Sessel fallen, in dem er augenblicklich tief versank, und starrte an die gegenüberliegende Wand. Auch hier waren die Spuren der Zeit zu sehen; die Bahn einer Tapete löste sich unterhalb der Decke, ein Fetzen fiel schräg ins Zimmer und warf einen Schatten über Linas Porträt, das sie in jungen Jahren zeigte. Ihr Gesicht, ihre ganze Gestalt strahlte auf dem Bild, ihr Lächeln zog jeden in seinen Bann und ließ die Augen sekundenlang auf ihrem Leib verharren, der Gesundheit und Lebensfreude verkörperte. Wilhelm stand auf, zog den losen Teil der Tapete noch mehr herunter und bedeckte damit seine Frau, deren Anblick er nicht mehr ertrug, obwohl er sie abgöttisch liebte.
    Kalter Wind fuhr ins Zimmer, bauschte die Vorhänge und ließ die Läden klappern. Wilhelm schloss das Fenster und setzte sich auf den Stuhl hinter seinem Schreibtisch. Eigentlich hatte er schlafen wollen, doch die Müdigkeit war verflogen und er wusste, dass er sich nach dem Hinlegen nur stundenlang unruhig im Bett wälzen würde. Er nahm ein Blatt Papier und dachte nach.
    Das knarrende Geräusch der vorletzten Stufe ließ ihn auffahren. War seine Frau aufgestanden? Konnte auch sie keinen Schlaf finden?
    »Lina?« Wilhelms Stimme klang heiser; das lange Sitzen im Rauch hatte ihr die Kraft genommen. Die Stille, die folgte, war schon fast körperlich spürbar. Nichts. Keine Antwort, keine hörbaren Bewegungen drangen an sein Ohr. Er zuckte die Schultern und schaute wieder auf das leere Blatt vor sich.
    Nach einigen Minuten vernahm er leise Schritte vor seiner Tür. »Lina?«, rief er erneut, diesmal lauter und kräftiger. Wilhelm wollte gerade aufstehen und nachsehen, als sich die Türklinke langsam senkte. Er hielt den Atem an und flüsterte noch einmal hoffnungsvoll den Namen seiner Frau. Eine Gestalt wurde in der Zimmeröffnung sichtbar. Langsam hob diese den Arm, und mit Entsetzen nahm Wilhelm die Waffe wahr, die auf ihn zielte und deren Metall im Licht blitzte. Im nächsten Moment durchbrach der Knall eines Schusses die Ruhe des Hauses.
     
    Eine Stunde später betrachtete Lina Fichtner den toten Körper ihres Ehemannes. Sie kniete sich neben der Leiche nieder, deren Kopf auf die Tischplatte gesunken war. Mit den Fingerspitzen berührte sie sachte das weich wirkende Gesicht, das ihr eigentlich so vertraut, nun jedoch auch völlig fremd vorkam. Nur langsam konnte sie die Augen wieder von dem Toten lösen und sich von der Blutlache am Boden und dem starren, leblosen Blick entfernen, vor dem sie sich plötzlich zu fürchten begann.
    Mit zitternder Hand griff sie schließlich zum Telefon und verlangte die Nummer der Polizei.

4. Kapitel
    Die Wolken am Himmel hatten sich kurzfristig gelichtet, und das blasse Licht des Mondes erhellte zaghaft den Baum mit den ausladenden und blätterlosen Ästen vor dem Fenster der k. k. Gendarmerie Wien. Cyprian von Warnstedt lehnte sich im
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher