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Sinfonie des Todes

Sinfonie des Todes

Titel: Sinfonie des Todes
Autoren: Armin Öhri / Vanessa Tschirky
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den Rat seiner Ärzte fortan ernsthaft zu befolgen.
    Er war 36 Jahre alt, eigentlich von kräftiger Statur, aber die Schwindsucht hatte ihn ausgezehrt. Die eingefallenen bleichen Wangen vermochte er nur noch durch einen Backenbart zu verbergen. Das Tragen solcher Haarpracht entsprach glücklicherweise der gängigen Mode, da wuchernde Barthaare als Attribut der Männlichkeit angesehen wurden, und so wusste der Kranke diese Maskerade zu seinen Gunsten zu nutzen. Mühe bereitete schon eher der Gemeinplatz, dass ein Mann forsch, ritterlich und aggressiv aufzutreten habe – eine Haltung, die dem von Nachtschweiß und Kopfschmerzen Geplagten einiges abverlangte. Das Gefährt polterte indes durch die Gassen, hatte den Ghega-Platz und den zehnten Bezirk längst hinter sich gelassen und folgte nun der Bubenbergerstraße bis zum Opernring. Der Kutscher ließ die Peitsche knallen und die Pferde bogen bei der Albertina und dem höfischen Operntheater ab.
    Robert Fichtner war müde. Es war spät geworden in dieser Novembernacht des Jahres 1901. Er schätzte die Uhrzeit auf einige Minuten nach Mitternacht. Seine Müdigkeit wäre mit der langen Zugfahrt zu erklären gewesen, doch irgendetwas in seinem Inneren sträubte sich dagegen, diese matte Abgeschlagenheit nur mit den Strapazen der Reise in Verbindung zu bringen. Für einen Augenblick lang pochte es in seinem Schädel, er machte ein altbekanntes Zerrbild aus, das in seinem Geist erschien: einen hässlichen schwarzen Skorpion, dessen kräftige Scheren nach ihm griffen, ihn packten und zermalmten. Die Beklemmung war wieder da, drohte, sich Bahn zu schlagen in seinem Körper, doch bevor es so weit war, verschwand sie sogleich wieder und verflüchtigte sich auf geisterhafte Weise. Robert atmete erleichtert auf und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
    Erneut öffnete er sein Handgepäck und sondierte den Inhalt, bis er das gewünschte Päckchen gefunden hatte, das den Abessinischen Tee enthielt. Der Sektionsrat wunderte sich über den irreführenden Namen, da er die Khatblätter ja nicht trank, sondern lediglich kaute, und er griff sich zwei der größeren Exemplare heraus. Er rollte sie zu kleinen Kügelchen, die er in den Mund nahm und mit der Zungenspitze in die rechte Wange schob. Als der Janschky-Wagen vor dem Haus mit Fichtners Mietwohnung hielt, hatte sich bei ihm bereits ein wohliges Gefühl eingestellt. Das Kopfweh war verschwunden, die Müdigkeit verflogen.
    Der Kutscher trug ihm das Gepäck ins Gebäude und Fichtner spendierte ein großzügiges Trinkgeld.
    Sowie er allein war, zwei Lampen angezündet hatte und den menschenleeren Salon betrachtete, der sich verstaubt und düster präsentierte, wurde ihm die Elendigkeit seiner Situation mit einem Schlag bewusst. Die roten Polstersessel waren abgenutzt, die Lehnen durchgescheuert. Die Bilder, die an der Wand hingen, waren mittlerweile vergilbt. Die sich spärlich einfindenden Besucher seiner Wohnung mokierten sich stets über die Nachdrucke von Gemälden der Secessionisten oder über die Fotografien einiger der erotisierenderen Werke Koloman Mosers. Fichtner schritt zum Fenster, um die schweren Kretonnevorhänge aufzuziehen und ein wenig frische Luft ins Zimmer zu lassen. Dabei fiel ihm ein Briefkuvert aus der Manteltasche und flatterte zu Boden. Er bückte sich, um den Umschlag aufzunehmen, und entsann sich des eigentlichen Grunds für den Abbruch seines Kuraufenthalts.
    Was sein Bruder wohl von ihm wollte? Hatte er womöglich wieder einmal Spielschulden gemacht?
    Fichtner wendete das aufgerissene Kuvert, überflog die krakelige Handschrift, die seine Meraner Hoteladresse wohl in aller Hast oder zumindest in geistiger Aufgelöstheit geschrieben haben musste, und er überlegte ernsthaft, gleich jetzt noch, zu solch nachtschlafender Stunde, Wilhelm aufzusuchen. Er verwarf den Gedanken, da ihn ein anderes Vorhaben gepackt hatte. Schleichend war dieses aufgetaucht, hatte sich in seinem Hinterkopf festgekrallt und plötzlich den Weg in sein Inneres gefunden. Die Entschlossenheit aber, bis zur letzten Konsequenz zu gehen, fehlte noch. Unwirsch schritt er auf und ab, warf den schwereren seiner Reisekoffer auf den Tisch, ließ die Schlösser aufschnappen und wühlte in seinen Kleidern, bis er das Bündel gefunden hatte, das seinem Khatpäcklein ähnelte. Er riss die Verpackung weg, die er umsichtig mit Rosmarinwasser besprüht hatte, und entnahm die Pilze, die ihm in Meran ein Kurgast anempfohlen hatte. Sie waren dünn, mit
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