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Sinfonie des Todes

Sinfonie des Todes

Titel: Sinfonie des Todes
Autoren: Armin Öhri / Vanessa Tschirky
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frisch geschminkt hatte, und erst jetzt fiel ihm auf, dass ihre Garderobe nicht unbedingt ihrem gesellschaftlichen Stand entsprach. Sie trug ein einfaches Kleid ohne die unzähligen Haken und Ösen, wie sie üblich waren. Auch konnte er unter ihrer Bluse ihre natürlichen Rundungen erkennen und schloss daraus, dass sie nicht durch ein Korsett eingeschnürt worden war. Cyprian fragte sich, ob sie diese Kleidung freiwillig trug oder durch irgendwelche Umstände dazu gezwungen wurde. Er fand grundsätzlich die wenigen Frauen, die entgegen den gesellschaftlichen Konventionen Hosen trugen, mutig und bewundernswert. Doch trotzdem mochte er die normalerweise verschnürten Körper, die das verhüllten, was die Fantasie ergänzen durfte. Und Warnstedt hatte gelegentlich Fantasie.
    »Frau Fichtner, entschuldigen Sie die Störung. Darf ich mich kurz mit Ihnen unterhalten?« Er setzte sich auf einen Küchenstuhl, ohne eine Antwort abzuwarten, und berührte mitleidig ihren Arm. Sie entzog sich ihm brüsk und ihre Augen funkelten, als sie ihn ansah. Warnstedt rückte sofort etwas weg und wiederholte seine Frage.
    Lina nickte und senkte ihren Kopf. »Was möchten Sie wissen?« Ihre Stimme klang heiser und brüchig. Sie nahm einen Schluck aus dem Glas, das vor ihr gestanden hatte, und verschüttete ein wenig der goldenen Flüssigkeit.
    Der Inspektor holte tief Luft und begann: »Wann haben Sie Ihren Mann gefunden?«
    Sie zuckte mit den Schultern. »So um halb drei, denke ich.«
    Cyprian warf einen Blick auf seine Taschenuhr. Sie zeigte Viertel vor vier. Ihm wurde bewusst, wie wenig er in den letzten Tagen geschlafen hatte und wie unendlich müde er war. Doch er nahm sich zusammen und fuhr mit der Befragung fort: »Waren Sie die ganze Nacht zu Hause?«
    Lina hob den Kopf und sah ihn mit ihren tiefen, dunklen Augen lange an. »Nein, ich war eine gewisse Zeit nicht da. Ich konnte nicht schlafen. Das kann ich nie, wenn mein Mann nicht daheim ist.«
    »Ihr Mann war nicht hier? Können Sie mir sagen, wo er war?«
    »Bei Freunden.« Frau Fichtner knetete ihre Finger, schlang sie ineinander und löste sie wieder.
    »Wie heißen diese Freunde?« Cyprian zog sich das Notizbuch und einen Stift aus der Hemdtasche und wartete auf Antwort. Nach kurzem Zögern nannte Lina die Namen der drei Männer, bei denen Wilhelm noch vor wenigen Stunden Karten gespielt hatte.
    »Würden Sie mir das bitte aufschreiben?« Der Inspektor schob das Büchlein über den Tisch und wartete ab, bis sie die Adressen und einige Telefonnummern zu Papier gebracht hatte. Dann griff er wieder selbst danach, um die weiteren Angaben zu notieren. »Und wo waren Sie zu dieser Zeit?«, erkundigte er sich.
    »Spazieren. Etwa zwei Stunden lang. Dahin und dorthin. Ich musste nachdenken.«
    Warnstedt hob erstaunt die Augenbrauen. »Spazieren? Allein in der Nacht?«
    Lina runzelte trotzig die Stirn. »Warum nicht? Ich sagte ja bereits, dass ich nachdenken musste.«
    »Worüber?«
    Sie seufzte. »Über das Leben. Über das Glück, das Leid, den Zufall. Über verpasste Chancen, über die Vergänglichkeit. – Zufrieden?« Ihr Blick hatte einen herausfordernden Ausdruck angenommen.
    Cyprian versuchte zu lächeln. »Ja, vorerst schon. Vielen Dank, Frau Fichtner.« Er stand auf, verabschiedete sich und drückte ihr dabei herzlich ihre schlaffe, kraftlose Hand.
    Die weitere Spurensicherung überließ er den beiden Gendarmen, wechselte mit dem Arzt noch ein paar Worte, um einige gerichtsmedizinische Fragen abzuklären, und verließ dann das Haus. Der Inspektor hoffte, noch ein paar wenige Stunden Schlaf zu bekommen, bevor er sich mit dem Bruder des Toten in Verbindung setzen würde. Sein Herz krampfte sich bei dem Gedanken zusammen, doch er wusste, dass sich dieser Schritt nicht vermeiden ließ.
     
    Als Lina wieder allein war, setzte sie sich an den Toilettentisch in ihrem Schlafzimmer und betrachtete ihr Spiegelbild. »Verpasste Chancen«, murmelte sie, legte die Stirn an das kühle Glas des Spiegels und schloss die Augen.
    Alles vergeht irgendwann, jegliche Blume verwelkt, jedes Tier verendet. Lina wusste das, doch sie weigerte sich, die Wahrheit dieser Tatsache anzunehmen, sie in ihrem Innern zu verankern. Gab es nicht die Möglichkeit, das Sterben aufzuhalten, das Älterwerden zu verhindern? Ihr Mann war tot und würde nie wieder aufwachen, nie wieder an ihrem Leben teilnehmen. Doch was war ihr Leben überhaupt? Hatte sie noch ein Leben? Kann ein Mensch mit verkümmerter Seele
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