Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Silentium

Silentium

Titel: Silentium
Autoren: Wolf Haas
Vom Netzwerk:
jede Klasse im Marianum ihre eigenen Duschräume in den einzelnen Stockwerken, aber damals nur die vierzig Duschkabinen ganz hinten im Internatskeller, und da hat der Spiritual eben einmal zu diesem Schüler sagen müssen, weißt du was, du bist ein ganz lieber Kerl, hübsche blonde Locken und alles, aber leider Hygieneprobleme!
    Aber der Spiritual immer sehr einfühlsam, der hat das so gemacht, daß es niemand sonst mitgekriegt hat, weil natürlich peinlich bis dorthinaus für einen zehnjährigen Buben, da bist du sofort das Gespött der Klasse, frage nicht. Jetzt hat der Spiritual gesagt, am nächsten Sonntag, wenn alle anderen in der Messe sind, gehe ich mit dir zu den Duschen hinunter und zeige dir, wie man sich richtig wäscht.
    So etwas ist einfach immer heikel, und da hat der Präfekt mit der Hasenscharte schon recht gehabt, daß irgendwer den Buben auch solche Dinge erklären muß.
    «Wie soll man da nach achtundzwanzig Jahren noch feststellen, wie es genau war», hat er immer wieder gesagt. «Wenn man bedenkt, daß sich nicht einmal der betreffende Mensch selber genau erinnert.»
    Weil es hat sich dann herausgestellt, daß der betreffende Mensch sich erst nach und nach bei seinem Psychiater an immer mehr erinnert hat.
    «Die Psychiater sind ja auch nur Geschäftemacher», hat der Sportpräfekt Fitz sich wieder zu Wort gemeldet, «die verderben sich doch ihr Geschäft nicht, indem sie zulassen, daß ihr Patient sich an alles auf einmal erinnert. Sondern der muß jahrelang kommen und darf sich nur scheibchenweise erinnern. Die machen das genauso wie die Zahnärzte, die dir acht Termine für eine Plombe geben. Oder dieser russische Stabhochspringer.»
    Weil da hat es einmal einen russischen Stabhochspringer gegeben, der hat seinen Weltrekord immer nur um einen einzigen Zentimeter verbessert, obwohl er im Training schon zehn Zentimeter höher gesprungen ist, nur damit er die Millionenprämie jedes einzelne Mal wieder bekommt.
    Das war aber jetzt schon gegen Ende, wo die Unterhaltung im Regens-Büro dann ein bißchen ausgeufert ist. Wie es schon langsam hell geworden ist, hat der Brenner sich auf den Weg gemacht. An und für sich kein langer Heimweg in den dritten Stock hinauf, aber aus irgendeinem blöden Grund hat er das Stiegengeländer mehrmals nach dem Weg fragen müssen. Und aus irgendeinem blöden Grund hat er unterwegs die ganze Zeit an diesen Hochspringer denken müssen, für den das Hochgehen sogar ohne Stiege kein Problem war.
    Und aus irgendeinem Grund ist ihm vorgekommen, daß das ganze nachtschlafene Marianum nach Bier stinkt. Du mußt wissen, der Brenner war aus Puntigam, wo das Bier herkommt, Puntigamer. Der hat natürlich sein Leben lang nicht vergessen können, wie das ist, wenn bei fallendem Luftdruck ganz Puntigam nach Bier stinkt. Und genau diesen Geruch hat er auf dem Heimweg in den dritten Stock in der Nase gehabt.
    In seinem Hilfspräfektenbett hat er noch ein bißchen über die drei Herren nachgedacht, den jungen Regens mit dem weichen Gesicht, den Präfekt mit dem grauen Bart über der Hasenscharte und den Sportpräfekt, der die ganze Zeit mit seinem nervösen Nähmaschinenknie geklimpert hat. Oder im Grunde war es nicht sein Knie, das so gescheppert hat, sondern der Schlüsselbund in seiner Hosentasche. Weil als Präfekt hast du natürlich Schlüssel für alles, Klassenzimmer, Studierzimmer, Kellertüren, Dachkirche, Küche, Privatwohnung, Auto und, und, und, das ergibt einen Schlüsselbund, Gefängniswärter nichts dagegen.
    Dieses sanfte Klingeln hat der Brenner noch im Schlaf gehört. Oder sagen wir einmal so. Die Internatsklingel ist auf einmal losgegangen wie eine Granate. Weil jeden Morgen erbarmungslos um sechs Uhr früh Motto: Du sollst dem Herrgott nicht den Tag stehlen. Der Brenner ist zwar sofort wieder eingeschlafen, aber um zwanzig nach sechs wieder die Klingel, weil Frühstudium, zwanzig vor sieben wieder die Klingel, weil Messe, und um Viertel nach sieben wieder die Klingel, weil Frühstück. Da hat er endgültig nicht mehr einschlafen können. Aber zum Aufstehen war er auch viel zu fertig.
    «Gerüche», hat der Brenner gedacht, wie der Geruch der warmen Frühstücksmilch in sein Zimmer gesickert ist. Und im nächsten Moment hat er alles wieder gewußt. Seine Erinnerung hat nicht scheibchenweise eingesetzt, sondern auf einen Schlag.
    Auf einen Schlag hat der Brenner sich in seinem Hilfspräfektenbett erinnert, woran der ehemalige Zögling sich auf der Psychiatercouch
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher