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Silbermuschel

Silbermuschel

Titel: Silbermuschel
Autoren: Federica de Cesco
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Triebwerke betäubte mich. Ich schloß die Augen.
    In Frankfurt hatten wir Zwischenlandung. Große Hallen, schummrig beleuchtete Gänge, Menschen aller Hautfarben. Ich hatte mich auf der Toilette übergeben, stöhnend kaltes Wasser getrunken. Dann hatte ich gewartet, zitternd, halb benommen, die Augen noch voll vom blauen Licht der Insel, vom smaragdgrünen Leuchten der See. Sadoga-Shima, die Insel der Götter und Geister, wo du, Isami, zur Welt kommen wirst. Wo deine Augen sich öffnen werden für die Farben der Zeit und wo dein Kinderfuß im Sand seine Spuren zeichnen wird. Und 569
    dann war ich – für eine kurze Stunde nur – in eine andere Maschine eingestiegen und in Genf gelandet. Niemand erwartete mich, niemand wußte, daß ich kommen würde. Ich hatte Zeit. Ich würde mir für eine Nacht ein Hotelzimmer suchen und morgen Franca anrufen. Sie hatte ein Gästezimmer; ich hatte schon oft bei ihr gewohnt. Ich würde auch Maître Perrot anrufen, einen Termin mit ihm abmachen.
    Aus Brunos Haus würde ich nur das Nötigste holen und keine Sekunde länger bleiben, als es sein mußte.
    Die Kopfschmerzen waren kaum auszuhalten. Als ich durch die Halle ging, sah ich eine kleine Stehbar. Ich stellte meine Tasche auf den Boden, bestellte einen Espresso, rieb mir müde die Stirn. Die ferne Musik, die leeren Räume um elf Uhr nachts hatten etwas Beklemmendes an sich. Ein Mann und eine Frau saßen an einem Tisch, neigten sich zueinander, sprachen leise; ihre Lippen berührten sich.
    Ich wandte die Augen ab. Ein verschlafener Kellner brachte mir den Espresso.
    Ich schüttete Zucker in den Kaffee, rührte um. Gedankenverloren betrachtete ich die kleine braune Tasse. Ich erinnerte mich an jenen Kinderreim, den Ken mir beigebracht hatte in dieser japanischen Stadt, deren Name ich vergessen habe. Es war an dem Abend gewesen, als er mir erklärte, welche Kraft ich besaß und wie sie zu mir gekommen war. Die Worte hatte ich auswendig gelernt; ich wußte auch, wie sie wirkten. Und so flüsterte ich sie in japanischer Sprache:
    »Kleiner Schläfer, kleiner Schläfer, ich bitte dich, erfülle meinen Wunsch.«
    Ich hielt den Blick auf die Tasse gerichtet. Nichts. Es geschah nichts, bis ich aus dem Augenwinkel einen kleinen goldenen Blitz wahrnahm. Das Lichtfünkchen kam von meinem Handgelenk. Fassungslos starrte ich auf Kens Uhr. Und da sah ich es. Der goldene Zeiger hatte sich vorwärts bewegt. Die Uhr, die zum Stillstand gekommen war, als der Teufel in seiner wahren Gestalt die Erde heimsuchte, begann wieder zu ticken, zu ticken wie ein Herz.
    Kimikos letzte Weissagung erfüllte sich: Die Zeit schlug wie eine Spirale dorthin zurück, wo sie damals angehalten hatte.
    Ich aber fühlte in mir ein ungeheures Glühen: Vor meinen Augen, aus mir selbst geboren, wuchs das Bild der goldenen Blume, seerosengleich, schimmernd und wunderbar. Alles war vorbestimmt, durch Jahre und Jahre, bis zu unserer Begegnung, seit jenem fernen Tag in Hiroshima, noch lange bevor ich geboren wurde, als ein Fuchs und ein Baum einen kleinen Jungen vor dem Tod bewahrten; als ein Mädchen mit wachem Geist einen Faden wob, der unsere Seelen für immer verknüpfte. So war es gewesen, so und nicht anders. Du und ich, mein Geliebter, werden unsere Liebe nie nach Augenblicken messen, ja nicht einmal nach Stunden oder Jahreszeiten. Es gab für uns auch andere Möglichkeiten: Nichts kann gedacht werden, was nicht existiert oder existieren könnte. Aber weil wir beide dem Teufel begegnet waren, suchten wir Gott.
    Und wie du willst, daß es geschehe, so geschieht es auch.
    Ich trank meinen Kaffee aus, legte Kleingeld auf den Tisch und ging. Ich 570
    schlenderte dem Ausgang entgegen; alles war still, das Echo meiner Schritte hallte durch die Gänge. Watashi anata ga suki. Lautlos formten meine Lippen die Worte, die zu dir sprachen, durch Raum und Zeit. Mir fiel auf, daß ich lächelte.
    Tokio, September 1992
    Chardonne, Dezember 1993
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