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Silbermuschel

Silbermuschel

Titel: Silbermuschel
Autoren: Federica de Cesco
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Teufel zu vertreiben.
    Den Teufel, der mein eigener Vater war.
    Gleich danach wurde ich krank. Meine Seele wanderte an der Grenze des Todes, kehrte nur widerwillig in einen Körper zurück, der sich ohne jede Lebenskraft nur nach Ruhe sehnte. Es sollte wohl sein, daß ich weiterlebte.
    Obwohl mein Vater mich vergewaltigt hatte und meine Kindheit für immer auf dem kleinen jüdischen Friedhof, jenseits des Rhôneufers, begraben war…
    Aber das war schon lange her. Seitdem hatte mein Vater mich nie wieder angerührt. Er hatte Angst vor mir. Er wußte, was ich tun konnte. Denn das Schlimme war nicht nur das, was er mir angetan hatte. Das Allerschlimmste war mein Geheimnis. Das durfte niemand erfahren. Vieles davon war mir zum Glück entfallen. Aber irgendwo in mir war die Erinnerung, und nachts spürte ich, wie die Stille atmete. Ich konnte sicher sein, vollkommen sicher, daß mein Vater über diese Sache nicht sprach. Es war schwer festzustellen, was er eigentlich dachte, aber irgendwo gab es etwas, woraus er keine Schlüsse mehr ziehen konnte.
    Ich schob die Erinnerungen von mir weg, fühlte, wie sie zurückwirbelten, sich auflösten. Der Druck wich von meiner Brust; ich atmete freier. Mit beiden Händen warf ich mein Haar aus dem Gesicht, bückte mich und zog einen verbeulten Lederkoffer unter dem Bett hervor. Als ich die Schranktür öffnete, hörte ich in der Stille das leise, vertraute Knarren. An den Bügeln hingen einige Kleidungsstücke; ich nahm nur das Nötigste mit. Ich packte meinen Plattenspieler und einen Stoß alter Platten ein, von denen ich mich in kindlicher Sentimentalität nicht trennen wollte. Noch etwas? Mein Blick richtete sich auf das kleine Bücherregal. Neben klassischen Romanen standen Sachbücher über Japan sowie mein japanischfranzösisches Wörterbuch. Ich schüttelte fassungslos den Kopf. Brunos Frage war berechtigt gewesen: Wie war ich eigentlich auf die Idee gekommen, Japanologie zu studieren? Es hing mit einem Erlebnis von früher zusammen. Ein Kinderbuch, das ich haben wollte und meine Eltern mir nicht gekauft hatten. Es war schon lange her. An den Titel entsann ich mich nicht mehr. Die Autorin hieß…
    Denk nicht mehr daran.
    Ich ließ die Bücher stehen, schloß den Koffer und schleppte ihn aus dem Zimmer. Auf der Schwelle wandte ich mich um, ließ die Blicke ein letztes Mal über die Dinge im Raum wandern. »Lebt wohl! « flüsterte ich. Doch die Antwort blieb aus. Die Gegenstände waren für immer verstummt. Mein Geist hatte sich aus ihnen zurückgezogen. Nicht einmal die Holzstufe knarrte, als ich mit dem Koffer in der Hand die Treppe hinunterstieg.
    Auf der Autobahn zog Bruno mit den Lippen eine Zigarette aus dem Päckchen.
    »Ich kann mich täuschen, aber ich werde den Eindruck nicht los, daß etwas mit eurem Familienleben nicht stimmt. Probleme gibt es ja überall, aber kannst du mir 20
    vielleicht sagen, was los ist?«
    Ich schwieg. Es war sehr heiß; meine Augen verloren sich in den Luftspiegelungen, die wie blaues Wasser über dem Asphalt schwebten. »Ach, nichts von Bedeutung«, sagte ich schließlich.
    »Jeder Mensch«, sprach Bruno bedächtig, »hat dann und wann das Bedürfnis, sich auszusprechen. Als zukünftige Eheleute sollten wir keine Geheimnisse voreinander haben.«
    In seiner Anteilnahme war Bruno durchaus redlich. Er hielt sich für einen erfahrenen, hilfsbereiten Menschen. Ich jedoch bewegte mich in den Grenzen eines inneren, wohlbehüteten Kreises. Keiner sollte mich berühren, mich verletzen. Daß ich von meinem Vater vergewaltigt wurde, hätte ich ihm vielleicht sagen können.
    Eine Zeitlang glaubte ich sogar, es würde möglich sein.
    Ich bin noch nicht gestorben! rief ich Bruno im Geiste zu. Noch ist es Zeit!
    Umarme mich. Küß mir die Tränen vom Gesicht, wärme mich mit deiner Haut, tröste mich mit Zärtlichkeit und im Flüsterton, damit ich fühle, wie mein Leben zurückkommt. Wühle die Dunkelheit in mir auf, reiße sie von meinem Herzen, verwandle sie in Licht.
    Aber Bruno hörte die verzagten, flehenden Klopfzeichen meiner verborgenen Qual nicht. Er meinte es gut; aber ihm fehlte das wahre Verständnis, das Mitgefühl.
    Sein Herz kannte nicht die Achtung, die Höflichkeit, die Liebe zu allen Geschöpfen. Auch Jahre später, als wir uns in nervenaufreibende Diskussionen verstrickten oder in tagelangem, zermürbendem Schweigen aneinander vorbei lebten, hatte ich ihm niemals klarmachen können, daß seine Besserwisserei jedes offene Gespräch
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