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Silberlinge

Silberlinge

Titel: Silberlinge
Autoren: Jim Butcher
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Vorsprung und folgte ihm mit dem Leitstrahl.
    Als Marcone ein Zimmer betrat, ging ich vorsichtig den Flur hinunter. Auf der Tür stand DOE, JANE, geschrieben mit Permanentmarker und mit der Zeit verblasst. Durch die kleine Scheibe sah ich, dass nur ein Bett im Zimmer stand, in dem ein Mädchen lag.
    Sie war noch jung, höchstens Anfang zwanzig, und schrecklich dünn. Sie war nicht an lebenserhaltende Instrumente angeschlossen, doch ihr Bett war makellos und hatte keine einzige Falte. Dies und ihr ausgemergeltes Äußeres ließen mich vermuten, dass sie im Koma lag.
    Marcone zog einen Stuhl ans Bett und schob dem Mädchen einen Teddybären an die Armbeuge. Dann nahm er ein Buch aus dem Rucksack und las ihr laut vor. Nach etwa einer Stunde legte er ein Lesezeichen ins Buch und verstaute es wieder.
    Er griff noch einmal in den Rucksack und holte das Grabtuch heraus. Dann zog er die Bettdecke zurück, legte vorsichtig das Grabtuch über das Mädchen und schlug es an den Enden ein wenig ein, damit es nicht überhing. Schließlich zog er die Bettdecke wieder hoch, setzte sich und senkte den Kopf. Ich hatte John Marcone noch nie beten sehen, doch ich konnte erkennen, wie er mit den Lippen immer wieder das Wort bitte formte.
    Er wartete eine weitere Stunde. Endlich stand er mit müdem, eingefallenem Gesicht auf und küsste das Mädchen auf die Stirn. Er verstaute den Teddy im Rucksack und ging. Ich war ihm weit voraus und saß schon auf seiner Motorhaube, als er nach draußen kam. Wie angewurzelt blieb er stehen und starrte mich an. »Wie haben Sie mich gefunden?«, fragte er leise.
    »Es war nicht leicht.«
    »Ist jemand bei Ihnen?«
    »Nein.«
    Ich sah förmlich, wie sich in seinem Kopf die Rädchen in Bewegung setzten. Er geriet sogar ein wenig in Panik und dachte offenbar daran, mich zu töten. Dann zwang er sich zur Ruhe und entschied sich gegen überstürzte Gewalttaten. Er nickte nur und sagte: »Was wollen Sie?«
    »Das Grabtuch.«
    »Nein«, sagte er. Es klang frustriert. »Ich habe es gerade erst hergebracht.«
    »Das habe ich gesehen«, sagte ich. »Wer ist das Mädchen?« Sein Blick wurde hart, und er schwieg.
    »Na gut, Marcone«, sagte ich. »Sie können mir das Grabtuch geben oder die Sache der Polizei erklären, wenn die Beamten es hier finden.«
    »Das können Sie nicht machen«, sagte er tonlos. »Das können Sie ihr nicht antun, das würde sie gefährden.«
    Ich riss die Augen weit auf. »Ist sie Ihre Tochter?«
    »Ich bringe Sie um«, drohte er ebenso leise. »Wenn Sie ihr auch nur ein Härchen krümmen, bringe ich Sie eigenhändig um, Dresden.«
    Ich glaubte ihm.
    »Was fehlt ihr denn?«, fragte ich.
    »Sie liegt im Koma und wacht nicht wieder auf«, sagte er.
    »Sie haben das Grabtuch gestohlen, um sie zu heilen.«
    »Ja.«
    »Ich fürchte, so funktioniert das nicht«, antwortete ich. »Es geht nicht ebenso einfach, als würde man das Licht einschalten.«
    »Vielleicht klappt es ja doch«, sagte er.
    Ich zuckte die Achseln. »Vielleicht.«
    »Ich riskiere es einfach«, sagte er. »Mehr habe ich nicht.« Ich blickte zur Klinik und schwieg einige Augenblicke. »Drei Tage.«
    »Was?« Er runzelte die Stirn.
    »Drei Tage«, wiederholte ich. »Das ist eine magische Zahl und entspricht angeblich auch der Zeit, die Christus darin eingehüllt war. In drei Tagen, nachdem dreimal die Sonne aufgegangen ist, sollten Sie wissen, ob es hilft oder nicht.«
    »Und dann?«
    »Danach werden Sie das Grabtuch in einem schlichten braunen Umschlag an Vater Forthill in Saint Mary of the Angels zurückgeben. Kein Begleitschreiben, gar nichts. Sie bringen es einfach nur zurück.«
    »Und wenn nicht, ziehen Sie dann das Mädchen hinein?«
    Ich schüttelte den Kopf und stand auf. »Nein. Das werde ich nicht tun. Dann werde ich mir Sie vorknöpfen.«
    Er starrte mich lange an, schließlich gab er nach. »Also gut.«
    Damit ließ ich ihn stehen.
    Bei unserer ersten Begegnung hatte Marcone mich mit einem Trick dazu gebracht, den Seelenblick mit ihm zu wechseln. Damals hatte ich keine Einzelheiten erkannt, sondern nur bemerkt, dass er ein Geheimnis hatte, das ihm die unglaubliche Willenskraft und die innere Stärke verlieh, eine der größten Verbrecherorganisationen des Landes erbarmungslos und mit tödlicher Präzision zu führen.
    Nun kannte ich sein Geheimnis.
    Marcone war nach wie vor ein Verbrecher, und der kriminelle Staat im Staate, den er regierte, war für unermessliches menschliches Leid verantwortlich. Vielleicht hatte er
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