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Silberlicht

Silberlicht

Titel: Silberlicht
Autoren: Laura Whitcomb
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warmen, trockenen Teppich neben die Füße meines Ritters gespült.
    Nach diesem Erlebnis war ich vorsichtig mit dem, was ich mir wünschte.
     
    Am Ende, als mein Ritter in der dunklen Ecke eines Krankenhauszimmers aus dem Leben entschwand, verlor ich abermals meinen einzigen Freund. Wieder betete ich zu Gott, mit meinem Bewahrer gehen zu dürfen, doch ich erhielt keine Antwort.
    Dieses Mal rettete mich eine Stimme, die so ganz anders war als die meiner bisherigen Bewahrer.
    Ein Dramatiker, der sich einen Arm gebrochen hatte, lachte im Nebenzimmer mit einem Kameraden und gab noch einmal das Abenteuer zum Besten, bei dem er sich seine Verletzung zugezogen hatte. Ich verließ das Bett meines Ritters, zog mich aus der Kälte, die schon ihre Finger nach mir ausstreckte, und schob mich durch die angrenzende Wand, um meine Arme um den albernen jungen Mann zu legen. Ich hielt ihn fest, bis ich sicher wusste, dass ich bei ihm bleiben durfte.
    Dieser Mann, »mein Dramatiker«, war vollkommen anders als meine ersten beiden Bewahrer. Fast jede Nacht veranstaltete er in seinem Zimmer Gesellschaften, die bis zum Morgengrauen andauerten, schlief bis zum Mittag, schrieb im Bett bis vier Uhr nachmittags, kleidete sich an und ging ins Theater zur Arbeit. Danach aß er auswärts und begann von neuem zu feiern. Ich denke nicht, dass er sich meiner auch nur im Geringsten bewusst war. Er und seine Freunde schienen wenig anderes im Sinn zu haben, als ihr Talent zu vergeuden. Seine Stücke brachten die Menschen zum Lachen, doch die einzige Zeit, während der ich Einfluss auf ihn zu haben schien, war an jenen düsteren Morgen, an denen er nach nur einer Stunde Schlaf verängstigt aus einem Alptraum aufschreckte. Ich saß dann am Fußende seines Bettes und sagte so lange die Gedichte meiner Heiligen auf, bis er wieder in den Schlaf sank. Er trank zu viel, aß zu wenig und starb zu jung und recht plötzlich auf einer seiner eigenen Feiern.
    Ein liebenswürdiger Dichter, ein echter Gentleman, der an diesem Abend zu Gast war, fing meinen Dramatiker auf, als er fiel, und stützte seinen schweren Körper wie Horatio, der Hamlets Kopf in seiner großen Hand hält. Augenblicklich erwählte ich ihn. Mein neuer Bewahrer – ich nannte ihn »meinen Poeten« – war empfänglicher für mein Flüstern als seine Vorgänger. Wenn sich sein Kopf vor der Vollendung eines Gedichts leerte, bereitete es mir große Freude, Ideen in sein schlafendes Ohr zu wispern. Wie Coleridge mit seiner wiederhergestellten Vision vom Paradies wachte er am nächsten Morgen auf und verwandelte meine Ideenfetzen in goldene Zeilen. Er verliebte sich unglücklich in andere Gentlemen, von denen manche Männern zugetan waren, andere nicht, doch er fand nie einen Partner. Mein Poet wurde später Dozent und Mentor eines siebzehnjährigen Jungen namens Brown.
    Mein Mr. Brown war ein hingebungsvoller Student, schrieb solch leidenschaftliche Geschichten und lauschte allem Rat so offen und rein, dass ich ihn bereits im Voraus erwählte. Schon Monate vor seinem Tod wusste ich, dass mein Bewahrer ohne mich in den Himmel gehen würde. Ich hielt mich an Mr. Brown fest, als er kam, um sich von meinem Poeten zu verabschieden. Wenig später zog Mr. Brown in den Westen, an eine dreitausend Meilen entfernte Universität. Ich hatte ihn gewählt, weil er Literatur so liebte und weil er ein gutes Herz hatte, eine ehrliche Zunge und eine klare Ehrvorstellung. Dennoch schien er sich seiner eigenen Rechtschaffenheit nicht bewusst zu sein. Dies machte ihn besonders anziehend. Ich erinnerte mich undeutlich, einmal von einem hübschen Lächeln in die Irre geführt worden zu sein, doch Mr. Browns Gesicht war ein wahrer Spiegel seines Geistes und würde nie jemanden täuschen können. Zu ihm fühlte ich mich mehr hingezogen als zu meinen ehemaligen Bewahrern. Vielleicht nannte ich ihn deswegen bei seinem richtigen Namen.
     
    Ich hatte die Regeln meines Überlebens während dieser langen Jahrzehnte gut gelernt: Bleib nahe bei deinem Bewahrer oder riskiere, in den Kerker zurückzukehren, nutze die kleinen Freuden, die du aus einer unsichtbaren Existenz ziehen kannst, und versuche, behilflich zu sein. Und ich glaube, dass ich Mr. Brown durchaus eine Hilfe war, während er seinen Roman schrieb.
    Seit seinem achtzehnten Lebensjahr arbeitete er mindestens eine Stunde pro Tag an seinem Werk. Er bewahrte es in einer Schachtel auf, in der vorher nur leeres Papier gelegen hatte. Er saß in einem Park oder an
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