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Silberlicht

Silberlicht

Titel: Silberlicht
Autoren: Laura Whitcomb
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einem Tisch in der Bibliothek und verfasste jeden Tag einen Absatz. Inzwischen umfasste der Roman mehr als zweihundert sorgfältig mit der Hand beschriebene Seiten, und doch war er nur bis Kapitel fünf gekommen. Oft saß ich neben ihm oder wanderte um ihn herum und beobachtete ihn beim Nachdenken. Jede Seite war so kostbar wie ein Gedicht. Wenn Zweifel oder Gedanken an das profane Alltagsleben seine Hand zum Erliegen brachten, versuchte ich seinen Stift zu ergreifen, um ihn zum Weiterschreiben zu bewegen, doch meine Finger strichen durch ihn hindurch. Ich entdeckte, dass ich ihm am besten helfen konnte, indem ich mit dem Finger auf das letzte Wort, das er geschrieben hatte, deutete. Dies führte seinen Stift immer wieder zurück aufs Papier und zauberte ein Lächeln auf seine Lippen. Er schrieb über ein Brüderpaar, das im Mittelalter für zwei einander verfeindete Könige kämpfte. Seine Geschichte war so farbenprächtig und geheimnisvoll wie Xanadu.
    Ich sehnte mich danach, mit ihm über den Namen einer Figur oder deren Motive zu sprechen, über einen Satz, mit dem er das Wesen eines Flusses schilderte, oder ein Wort, das die Augen eines sterbenden Mannes beschrieb. Während er schlief, dachte ich mir lange Konversationen aus, die wir führen würden, wenn er mich sehen und hören könnte – wir zwei beim Teetrinken oder bei einem Spaziergang in der Natur, über brillante Ideen lachend. Doch das würde niemals geschehen. Und so kam es, dass ich meine liebste Stunde des Tages mit ihm und seinem Buch verbrachte, bis er irgendwann mit dem Schreiben aufhörte. Und zwar an dem Tag, an dem er seiner Braut begegnete.
     
    Sie sahen sich zum ersten Mal in einem Vorlesungssaal und trafen sich an der Tür, als sie gleichzeitig den Raum verlassen wollten. Eine unbehagliche Vertrautheit lag über ihrer Begegnung. Wie sie ihn anlächelte, wie verzückt er war, wenn sie über seine Scherze lachte, die kleinen Entschuldigungen, die sie anführten, um einander zu berühren. Ihre Hand auf seinem Arm, wenn sie ihn etwas fragte, sein Knie an ihrem, als sie Kaffee an einem der winzigen Tische eines Pubs tranken, in dem es so laut war, dass sie bald zu einem Spaziergang aufbrachen. Keiner meiner Bewahrer hatte jemals mit einer anderen Person zusammengelebt, und ich schäme mich zuzugeben, dass ich eifersüchtig war, als dieses Mädchen in sein Leben trat. Zuerst machte ich mir vor, ihr Beisammensein zu missbilligen, weil Mr. Brown aufgehört hatte, an seinem Buch zu arbeiten, doch ich wusste, dass dies nicht der wahre Grund war. Haltlosigkeit überkam mich, und ich hatte plötzlich Angst vor Schatten und lauten Geräuschen. Ich wollte ihn aufhalten, doch obwohl sie sein Schreiben unabsichtlich blockierte, machte sie ihn doch unzweifelhaft glücklich. Ich wollte sie warnen, dass ein Mann zuerst perfekt wirken und dann ohne Grund abweisend und distanziert werden konnte, doch immerhin war es Mr. Brown, in den sie sich verliebt hatte. Es wäre eine Lüge, zu behaupten, er sei das Risiko nicht wert.
    Und weil ich ihn liebte, ließ ich sie gewähren, und weil ich Schmerz fürchtete, lernte ich, ihnen in einer gewissen Distanz zu folgen, wenn sie zusammen waren. Ich fühlte mich einsamer, als ich es je mit einem Bewahrer gewesen war, doch ich versuchte seine Frau zu lieben, als wäre sie meine Tochter. Sie hatte nichts an sich, über das ich mich hätte beschweren können. Es wäre eine Sünde, ihm Entmutigungen ins Ohr zu flüstern. Und so waren die beiden bereits verheiratet, als er dreiundzwanzig und sie einundzwanzig Jahre alt waren. Ich lernte, die Stiche zu ignorieren, die ich fühlte, wenn er sie beim Autofahren kitzelte oder sie ihre Füße beim Frühstück in seinen Schoß legte. Die Intimität schmerzte, weil sie nicht mir galt. Ich gehörte Mr. Brown und er mir, doch nicht auf die Art, wie sie die Seine war. Wie er der Ihre war.
    Ich brachte mir die neuen Regeln des Überlebens bei: sich aus dem Raum zu bewegen, wenn sie sich küssten, das Schlafzimmer nur zu betreten, wenn es still war, meine Zeit mit Mr. Brown bei der Arbeit zu schätzen. Ich folgte diesen Regeln, und eines Tages wurde ich dafür belohnt. Mr. Brown holte seine angestoßene Schachtel wieder hervor, packte sie in seine Aktentasche und fuhr uns früher als gewöhnlich zur Schule.
     
    Seit nunmehr einem Jahr arbeitete Mr. Brown morgens eine Stunde an seinem Roman, bevor die ersten Schüler eintrafen. Mit mir an seiner Seite. Von diesen geschenkten Momenten
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