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Silberlicht

Silberlicht

Titel: Silberlicht
Autoren: Laura Whitcomb
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ein falsch verwendetes Wort kann den Arm eines Schülers in einem unerklärlichen Schauer kribbeln lassen.
     
    Es klingelte, und alle, auch dieser blasse junge Mann, schlossen ihre Bücher, standen unter geräuschvollem Stühlerücken auf und schlurften zur Tür. Mr. Brown schreckte aus seinem Tagtraum auf.
    »Ich werde morgen einen Lehrfilm mitbringen«, sagte er. »Schlaft dabei nicht ein, oder ich frage euch einzeln dazu ab.« Zwei oder drei Schüler murrten angesichts der Drohung, doch die meisten waren schon gegangen, wenn nicht körperlich, dann zumindest geistig.
     
    So hatte es also begonnen. Wenn man Licht ist, haben Tag und Nacht wenig Bedeutung. Ich brauche die Nacht nicht zur Erholung – sie ist bloß eine ärgerliche Dunkelheit, die einige Stunden andauert. Doch die Lebenden messen ihre Reisen in einer Kette von Tagen und Nächten. Dies ist die Geschichte meiner Reise zurück zu den Lebenden. Ich werde in eine fleischliche Hülle zurückkehren. Für sechs Tage.
     
    Für den Rest der Zeit blieb ich beschämend nahe bei meinem Mr. Brown. Wenn man bei einem Bewahrer lebt, ist es nicht notwendig, ihm von Raum zu Raum zu folgen. Ich würde meinem Bewahrer beispielsweise niemals ins Badezimmer nachgehen oder ins Ehebett – egal, ob Mann oder Frau. Von dem Moment an, als ich meinen ersten Bewahrer fand, war ich den Vorschriften ergeben. So habe ich von Anfang an gelernt zu überleben.
     
    Ich erinnerte mich an alle meine Bewahrer, doch aus der Zeit, bevor ich Licht wurde, sind mir nur wenige Bilder im Gedächtnis geblieben. Der Kopf eines Mannes auf dem Kissen neben mir. Er hatte strohfarbenes Haar, und wenn er die Augen öffnete, sah er nicht mich an, sondern blickte in Richtung des Fensters, wo der Wind an der Glasscheibe rüttelte. Ein hübsches Gesicht, das jedoch keinen Trost spendete. Ich erinnerte mich, wie ich einen flüchtigen Blick auf meine eigenen Augen erhaschte, die sich im Fenster spiegelten, als ich denselben Mann auf einem schwarzen Pferd durch das Farmtor reiten sah, der Horizont wolkenverhangen. Und ich erinnerte mich an ein Paar ängstlicher Augen, das in Tränen zu mir aufsah. Ich konnte mich an meinen Namen und mein Alter erinnern, dass ich einst eine Frau war, doch der Tod verschlang den Rest.
    Die Pein des Sterbens war indes unvergesslich. Ich war tief im kalten, erdrückenden Bauch eines Grabes gefangen, als mein erstes Spuken begann. Ich hörte ihre Stimme in der Dunkelheit, wie sie Keats’
Ode an eine Nachtigall
las. Eisiges Wasser brannte in meiner Kehle, zersplitterte meine Rippen, ein Dämonenheulen dröhnte in meinen Ohren, doch ich konnte ihre Stimme hören und griff nach ihr. Eine verzweifelte Hand durchbrach die Flut und packte den Saum ihres Gewandes. Ich zog mich, Handbreit um Handbreit, aus der Erde und brach zitternd zu ihren Füßen zusammen, klammerte mich an ihre Röcke, weinte schlammige Tränen. Ich wusste nur, dass ich in der Dunkelheit gefoltert worden und dann entkommen war. Vielleicht hatte ich nicht den Glanz des Himmels erreicht, doch wenigstens war ich hier, im Licht ihrer Lampe, in Sicherheit.
     
    Es dauerte lange, bis ich erkannte, dass sie nicht für mich las, dass ihre Schuhe nicht mit Schlamm bespritzt waren. Ich hielt sie umklammert, doch meine Arme ließen die Falten ihres Kleides unberührt. Ich weinte zu ihren Füßen wie ein armer Teufel, der gesteinigt werden soll und den Saum von Christi Gewand küsst, doch sie nahm mich nicht wahr, konnte mein Schluchzen nicht hören. Ich sah sie an – ein zerbrechliches Gesicht, blass, doch mit rosiger Nase und geröteten Wangen, als ob immer klirrender Winter um sie herum herrschen würde. Sie hatte graues, fedriges Haar, wie Daunen, das zu einem Vogelnest zusammengefasst war, und scharfe grüne Augen, intelligent wie die einer Katze. Sie war fest und warm mit einem flatternden Puls. Sie trug ein schwarzes Kleid mit nicht zueinander passenden Knöpfen, das an den Ellbogen abgewetzt war. Auf ihrem Schultertuch konnte ich winzige Tintenspritzer ausmachen. Der Einband des kleinen Buches in ihren Händen war geprägt mit der Figur eines rennenden Hirschs. Alles wirkte so real und brannte vor Details. Aber ich war Schatten, leicht wie Nebel, stumm wie eine Tapete.
    »Bitte helfen Sie mir«, sagte ich zu ihr. Doch taub für mein Flehen, blätterte sie nur die Seite um.
    »Du stirbst nicht, Vogel, du lebst ewiglich!« Als sie die vertrauten Worte rezitierte, begriff ich, was ich war. Stundenlang, so kam es
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