Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Silberlicht

Silberlicht

Titel: Silberlicht
Autoren: Laura Whitcomb
Vom Netzwerk:
wünschen, aber das war ein Irrtum. Ich war vollkommen verwirrt. So gewissenhaft hatte ich mir beigebracht, ein zufriedener Zuschauer zu sein, und jetzt wurde ich meinerseits von diesem Jungen beobachtet.
    Ich blieb in der Nähe des Klassenzimmers, beim Stamm des Pfefferbaumes keine fünf Meter von der Tür entfernt, und wartete. Als sich nach einer Weile, die sich wie ein Jahr anfühlte, endlich die Tür öffnete und lachende Jungen und Mädchen aus dem Klassenzimmer strömten und auf die anderen Gebäude zuhielten, versteckte ich mich hinter dem Baumstamm. Und dann sah ich ihn. Seine Tasche hing nachlässig über der Schulter, und das Haar fiel ihm über eine Augenbraue. Fiebrige Erregung ließ mein Innerstes erzittern. Der junge Mann ging allein, mit gesenktem Kopf auf meinen Baum zu. Als er noch ungefähr anderthalb Meter von mir entfernt war, blieb er kurz stehen. Nach einem Moment kurzen Errötens setzte er lächelnd seinen Weg fort, die Augen immer noch zu Boden gerichtet. Ich hatte keine Kraft, mich zurückzuhalten – ich folgte ihm.
    Hinter uns konnte ich Mr. Brown fühlen, wie er zum Verwaltungsgebäude ging, wie so oft um diese Uhrzeit. In meinem Inneren spürte ich ein unangenehmes Ziehen. Einen Faden, zum Zerreißen gespannt, einen drohenden Riss in meinem Universum. Das Vertraute zerrte an mir an der einen Seite und das Geheimnisvolle an der anderen. Mr. Browns Weg verlief zwischen Schulgebäuden, und ich ließ ihn allein gehen. Der Junge verärgerte mich, weil er plötzlich zwischen der Cafeteria und der Sporthalle verschwand. Dort gab es einen kleinen Platz für Dosen und Flaschen, die gesammelt und wiederverwertet wurden. Widerstrebend folgte ich ihm. Er steuerte direkt auf die Sackgasse zu, und ich blieb abrupt stehen. Die Vorstellung, er werde vielleicht durch die Wand gehen, erfüllte mich mit Verwirrung, doch das tat er nicht – einen Meter vor der Mauer blieb er stehen.
    Ich war von mir selbst überrascht, als ich mich dicht an ihn heranwagte und zu sprechen begann. »Kannst du mich hören?«
    »Ich habe doch Ohren, nicht wahr?«
    Ich stutzte. Aber was hatte ich erwartet? »Und du siehst mich?«, fragte ich.
    Er hielt den Kopf gesenkt, wandte langsam die Schultern und lugte unter der Locke seines braunen Haares hervor. Er lächelte. »Natürlich.«
    Ich trat einen Schritt zurück. »Was bist du?«
    »Meinst du nicht eher – wer bin ich?« Behutsam drehte er sich zu mir um. Ein Eiszapfen aus Angst glitt meine Kehle hinunter.
    »Warum siehst du mich?«, zischte ich. Meine Furcht ließ keinen Platz für Manieren.
    »Hab keine Angst.« Er lächelte nicht mehr, sondern sah mich beschwichtigend an.
    »Nein!« Ich hatte das Gefühl, ihn auszuschimpfen und daran erinnern zu müssen, dass wir einander nicht ordentlich vorgestellt worden waren. Mein Inneres kribbelte, als würde sich Mr. Brown außer Reichweite bewegen. Ein dumpfer Knochenschmerz begann sich in meinen Gliedmaßen zu regen.
    »Sprich nicht mit mir.« Ich sah mich um in der irrationalen Annahme, dass mich nun jeder Sterbliche sehen müsse, doch außer uns war niemand in Sichtweite. Als ich mich dem Jungen wieder zuwandte, waren seine Augen so voller Mitleid, dass ich es nicht ertragen konnte. Ich drängte durch die Kälte und rannte davon wie ein Kind, das in der Nacht von einer Eule erschreckt worden war.
    Im Nachhinein schäme ich mich zu erzählen, wie sehr es mich ängstigte, dass man mich angesprochen hatte. Ich konnte Hamlet förmlich seufzen hören: »Ach, armer Geist.«
    Am nächsten Tag blieb ich eng bei Mr. Brown, außer wenn er sich im Bett oder im Bad aufhielt. Doch als er sich anschickte,
diese
Klasse zu unterrichten, zog ich mich in die winzige Schulbibliothek zurück, schaute ein paar Schülern über die Schulter, las ihre Bücher mit und zählte die verbleibenden Minuten.
     
    Am Morgen darauf, Mr. Brown war früh aufgestanden, um zu joggen, traf er seine Frau, die sich in der Küche einen Kaffee kochte, nur mit einem seiner alten T-Shirts bekleidet. Mit einem Mal schien er die Zeit vollkommen vergessen zu haben und führte sie zu einem der Küchenstühle, während ich lautlos in den Garten glitt. An einem anderen Tag hätte es mich verstimmt, dass wir nicht die volle gemeinsame Schreibstunde vor Unterrichtsbeginn haben würden. Doch heute blickte ich in das leere Vogelbad auf dem winzigen Rasenstück und fragte mich, was der, der zu mir gesprochen hatte, wohl gerade tun mochte. Ich konnte nicht anders, als ihn
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher