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Silberlicht

Silberlicht

Titel: Silberlicht
Autoren: Laura Whitcomb
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Hand. Wenn ich sicher sein könnte, dass sie überlebt hatte, dann würde ich Frieden finden, egal, wie lange der Sturm tobte, wie kalt mein Körper wäre. Wieder erklang ihre Stimme in der Dunkelheit über der Wasseroberfläche.
    »Mama, ich warte auf dich.«
    Ich schob mein Gesicht näher an die Öffnung und sagte: »Nein, Liebling, tu das nicht.«
    Dann sah ich sie. Die Augen meiner kleinen Tochter lagen in dem weichen, runden Gesicht einer Frau, deren Haar mit grauen Strähnen durchzogen war. Draußen war helles Tageslicht, und sie sah zu mir herunter. Als sie lächelte, wurden ihre Grübchen sichtbar.
    »Doch, Mama«, sagte sie lachend und reichte mir ihre faltige Hand. »Ich habe auf dich gewartet.«
    Ich kletterte aus dem dunklen Verlies in ihre Arme. Sie stand auf den nassen Stufen und kümmerte sich nicht darum, dass ich vor Schlamm triefte. Sie küsste all die Stellen, an die sie sich als kleines Kind geklammert hatte, meine Schläfen, meine Braue, mein Haar, und ich konnte immer nur denken: Sie hat überlebt. Mein Baby hat überlebt. Sie umfasste mein Gesicht mit ihren Händen und drückte meine Wangen, wie sie es als Zweijährige getan hatte.
    Durch ihre Handflächen spürte ich den fröhlichen Tanz ihres Geistes. Mein Tod hatte sie nie verfolgt, sie hatte keinem von uns die Schuld gegeben. In ihren klaren Augen konnte ich ihr langes Leben sehen – das Zwinkern ihres Ehemannes, als er sich eine Fiedel unter den roten Bart klemmte, ihre zwei sommersprossigen Söhne, die durch die Küche rannten, ihre Enkelin, die an ihrer Schürze zog und mit vier winzigen Zähnchen zu ihr hinaufgrinste. Freude wehte wie ein warmer Wind durch mein Haar und meine Röcke und kräuselte das Wasser zu meinen Knien.
    »Wo bist du gewesen?« Meine Tochter schüttelte den Kopf, doch sie lächelte. »Hast du nicht gehört, wie ich dich gerufen habe?«
    Wenn ich bei meinem letzten Atemzug meine Augen im Wasser geöffnet hätte, dann hätte ich gesehen, dass sie gerettet war. Stattdessen hatte ich meine Augen geschlossen und mir die Hölle vorgestellt. Jahr um Jahr hatte ich mich hinter meinen Bewahrern versteckt und meine Ohren verschlossen. Wie lang hatte sie schon nach mir gerufen? Ein halbes Jahrhundert? Es tat mir so leid, dass ich sie hatte warten lassen, dass ich zu weinen begann, doch sie fasste mich sanft am Kinn und hob mein Gesicht, erlaubte keinen weiteren Moment des Bedauerns. Sie küsste mich leicht auf die Lippen und stieg aus dem Wasser.
    Ein ungeheures Gewicht war von meiner Brust genommen worden, eine Faust gefrorener Tränen. Als Licht war mir nie so leicht zumute gewesen.
    Und dann sah ich James.
    Ich erklomm die letzten Stufen und streckte meine Hände nach ihm aus. Er trug eine Uniform, legte seine Arme um meinen nassen Körper und hob mich wie eine Braut über die Schwelle. Es war kein Traum. Der Wind roch nach Jasmin, das Licht schimmerte durch die rauschenden Blätter, Spottdrosseln sangen ihr Lied. Jede Einzelheit stand strahlend klar vor mir. Und ich war kein Schatten, sondern so wirklich und real wie der Garten, der sich vor mir ausbreitete.
    James setzte mich sanft auf dem Boden ab und hielt meine Hand, als könne er es nicht ertragen, mich je wieder loszulassen. Da war meine Eiche, gesund und hoch aufragend. Eine Gruppe von lächelnden Soldaten, die Wein aus einer Flasche tranken und uns amüsiert beobachteten. An einem Tisch im Schatten saßen vier bekannte Gesichter und tranken Tee. Sie unterbrachen ihre Unterhaltung und drehten sich zu mir um, als sei ich der Ehrengast – meine Heilige, mein Ritter, mein Dramatiker und mein Poet.
    Langsam begann sich dieser grüne Ort wie eine Musikbox um uns zu drehen. Alle meine Erinnerungen kehrten zurück, ebenso wie die seinen. Wir konnten unser beider Erlebnisse fühlen und sehen. Kinderlieder, Bücher, gebrochene Herzen, vergebene Streitereien. Die Süße dieser Unvollkommenheiten überstrahlte das Bedauern bei weitem. Unsere Leben überlappten sich wie zwei aneinanderstoßende Grashalme.
    Als ich James endlich an mich zog, waren meine Schmerzen vergessen, meine Kleider getrocknet. Er hob mein Kinn, und ich hatte nicht das Gefühl zu fallen, wie früher, wenn ich als Licht einen Lebendigen berührt hatte. Jetzt waren es unsere Seelen, die sich berührten. Wir beide waren Licht. Und als wir uns küssten, verschwamm alles um uns herum.

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    Danksagung
    Dank geht an meine Familie – meine wunderbaren Eltern, die lieben Whitcombs, die reizende Familie
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