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Silberlicht

Silberlicht

Titel: Silberlicht
Autoren: Laura Whitcomb
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verwies. Er holte das Blatt wieder zu sich und schrieb erneut, wobei er die Seite dieses Mal wie ein Banner über den Tisch hängen ließ, so dass ich leicht mitlesen konnte. Dort stand: »Bitte hab keine Angst. Ich wäre dir ein Freund.«
    Ich kann es nicht leugnen, die Tatsache, dass er sich anders als die anderen Schüler im Raum auszudrücken verstand, faszinierte mich. Ich musterte ihn, doch seine Augen waren fest auf die Tafel gerichtet. Der braune Papierumschlag seines Englischbuches war voller kleiner Zeichnungen, die mythologische Tiere darzustellen schienen.
    »Ich habe mich vor dir versteckt«, antwortete ich endlich.
    Wieder schrieb er etwas auf das Papier. Ich wartete gespannt, dass er mir das Blatt erneut zuschob. »Komm mit mir nach dem Unterricht. Ich sehne mich danach, wieder mit dir zu reden.«
    Jemand sehnte sich danach, mit mir zu reden.
    Ich schrak auf, als das Mädchen, das normalerweise an dem von mir vereinnahmten Pult saß, verspätet zum Unterricht erschien, Mr. Brown einen Entschuldigungszettel reichte und auf uns zukam. Hektisch sprang ich auf und stellte mich an die Wand. Ich sah, wie der Junge das Papier zwischen die Seiten seines Buches schob. Ich konnte meine Augen nicht von ihm abwenden. Wie ein Wanderer in der Wüste, der eine Luftspiegelung fürchtet, starrte ich ihn an, meine Oase, doch er war real. Es gefiel mir, dass er die junge Dame, die nun auf der anderen Seite des Ganges neben ihm Platz nahm, nicht zu bemerken schien. Er rutschte auf seinem Stuhl hin und her und tat immer noch so, als würde er Mr. Brown aufmerksam zuhören. Schließlich warf er mir, ohne den Kopf zu drehen, einen flüchtigen Blick zu und zwinkerte kaum merklich.
    Als die Klingel ertönte, schloss er langsam sein Buch. Die anderen Schüler hatten sich schon ihre Taschen über die Schulter geworfen und strömten zur Tür. Der junge Mann packte gemächlich seine Sachen zusammen und drehte sich halb zu mir um. Mit einer Kopfbewegung deutete er mir an, ihm zu folgen. Wir gingen den Gang entlang, zur Tür hinaus, den Weg hinunter. Er blickte starr nach vorn. Als er bei den Recyclingtonnen angelangt war, wo wir das erste Mal miteinander gesprochen hatten, standen da ein Junge und ein Mädchen, die sich an den Händen hielten und miteinander redeten. Er stoppte für einen kurzen Moment und ging dann weiter bis zur Bibliothek, wo er stehen blieb und die Telefonzelle neben dem vergitterten Getränkeautomaten betrat. Die Zelle war alt, ein aufrecht stehender Glassarg. Er stellte seine Tasche auf den Boden, nahm den Hörer ab und sah mir dabei in die Augen.
    »Wie ist dein Name?«, fragte er, und mein Atem stockte. »Wie soll ich dich nennen?«
    Es war nicht so, dass ich es vergessen hätte; es war nur so lange her, dass mich jemand danach gefragt hatte.
    »Helen«, antwortete ich schließlich.
    Er sah sich um, ob uns jemand zuhörte. Dann drückte er sich in die hinterste Ecke der engen Zelle und bedeutete mir mit einer Hand, hereinzukommen. Ich war schockiert, doch ich gehorchte. Er schloss die Schiebetür hinter mir. Erst jetzt verstand ich, dass er nun mit mir reden konnte, ohne dass ihn jemand hörte.
    »Helen«, sagte er.
    »Mr. Blake«, erwiderte ich.
    Er lächelte. Ein verzauberter Moment. »Nicht ganz«, erklärte er. »Mein Name ist James.«
    Er sah mir tief in die Augen, und es herrschte ein sonderbares Schweigen zwischen uns. Ich fühlte mich, nun ja, so hilflos, dass ich kaum sprechen konnte. »Weshalb kannst du mich sehen?«, fragte ich. Doch eigentlich wollte ich rufen:
Gott sei’s gedankt, dass du es kannst.
    »Ich bin wie du«, antwortete er. Als ich ihn verwirrt anblinzelte, fügte er hinzu: »Im Geist.«
    »Du bist Licht?« Ich konnte es nicht glauben.
    »Licht.« Er übernahm meine Beschreibung sofort. »Ja.«
    »Das ist nicht möglich.«
    »Ich habe diese fleischliche Hülle nur geliehen«, sagte er. »Davor konnte ich dich nicht sehen.«
    Als jemand an der Telefonzelle vorbeiging, riss er den Hörer zurück an sein Ohr, den er geistesabwesend auf seine Brust hatte herabsinken lassen. »Bist du noch da?«, sagte er in den Hörer, doch er lächelte. »Miss Helen, wenn du mir die Frage erlaubst, warum hast du dich gestern vor mir versteckt?«
    »Ich bin mir nicht sicher. Ich hatte Angst.«
    »Bitte nicht.«
    Es wirkte so mühelos, wie er sich unter den Lebenden bewegte, als wäre er einer von ihnen. »Wie lange bist du schon tot?«, fragte ich.
    »Fünfundachtzig Jahre.«
    »Wie alt warst du, als
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