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Silberlicht

Silberlicht

Titel: Silberlicht
Autoren: Laura Whitcomb
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Horrorgeschichten.«
    »Keine Lyrik«, erwiderte ich. »Kein Shakespeare, keine Austen.«
    Als wolle er mich aufmuntern, sagte er: »Ich habe einmal einen Comic über Frankenstein gelesen, als ich neben einem zehnjährigen Mädchen saß.«
    »Das ist furchtbar!«
    »Jetzt ist ja alles gut.« James sah, dass ich den Tränen nahe war, und kramte in seiner Tasche. Dann lächelte er. »Ich würde dir gerne ein Taschentuch anbieten, aber ich habe keins, und selbst wenn …«
    Das brachte mich zum Lachen.
    »Woran erinnerst du dich aus deinem Leben als James?«
    Er straffte die Schultern, als der Hausmeister an der Telefonzelle vorbeiging. »An sehr wenig. Wir hatten einen Mandelgarten und eine Wetterfahne in Gestalt eines galoppierenden Pferdes.« Er überlegte kurz. »Als ich klein war, hatte ich ein Schaukelpferd namens Cinder. Sein Schwanz war abgebrannt, weil es einmal zu nahe am Kamin gestanden hatte.«
    Mir wurde kalt, und ich fühlte mich dünn wie Zinn, zerbrechlich. Schemenhaft kam mir ein spielendes Kind in den Sinn, ein blonder Schopf, der sich über ein kleines wollenes Lamm auf Rädern beugte.
    »Mein Hund hieß Whittle«, fuhr James fort. »Mein Cousin hat mir beigebracht, im Fluss zu schwimmen. Einmal bauten wir uns ein Floß und wären beinahe ertrunken.« Er lachte, bis er meinen Gesichtsausdruck sah. »Was ist los?«
    »Woran erinnerst du dich noch?«, lenkte ich ab. Ich wollte nichts übers Schwimmen hören.
    »Mein Vater hat mir Soldaten aus Lindenholz geschnitzt.« Er führte den Hörer an sein anderes Ohr. »Das ist alles, was bisher wiedergekommen ist.«
    In diesem Moment wünschte ich mir, ein Bild von James in seinem richtigen Körper zu haben.
    »Und an was erinnerst du dich aus der Zeit, bevor du Licht wurdest?«, fragte er. »Erzähl mir alles.«
    »Nichts.« Das war nicht die ganze Wahrheit. »Nur mein Alter, meinen Namen und dass ich weiblich war.« Er lauschte gespannt. »Der Rest sind schemenhafte Bilder. Und Empfindungen. Ich gehe zum Beispiel nicht in Schränke«, erzählte ich.
    Die Art, wie er mich betrachtete, machte mich neugierig. »Wie sehe ich für dich aus?«, hörte ich mich fragen und wurde sofort verlegen. Doch James blieb gelassen.
    »Du siehst wunderschön aus«, sagte er. »Du hast dunkle Augen und helles Haar.« Er schwieg und betrachtete mich noch eingehender.
    »Wie alt sehe ich aus?«
    »Eine Frau, kein Mädchen.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich kann es nicht genau sagen.«
    »Ich war siebenundzwanzig«, sagte ich. »Was trage ich?«, fragte ich und fügte hinzu: »Ich kann mein Spiegelbild nicht sehen.«
    »Ich weiß«, erwiderte er sanft. Beinahe hatte ich vergessen, dass auch er Licht gewesen war. »Du trägst ein Kleid mit einer gestreiften Schleife hier.« James zog den Ausschnitt des Kleides an seiner Brust nach.
    »Welche Farbe?«, wollte ich wissen.
    Er lächelte. »Es ist schwer zu beschreiben. Du bist nicht wie ein Gemälde. Du bist wie Wasser. Manchmal voller Farbe, manchmal silbern, fast durchsichtig.«
    »Und wenn ich voller Farbe bin«, sagte ich, »wie sehe ich dann aus?«
    »Dann sind deine Augen braun«, antwortete er. »Dein Haar ist golden, und dein Kleid ist blau.«
    Ein kräftiger Pulsschlag, hart wie kalter Lehm, hämmerte durch mein Herz. Ich drängte mich näher an James heran, um die Angst zu vertreiben.
    »Was trugst du, bevor du Mr. Blakes Körper bekamst?«, fragte ich neugierig.
    Er lachte. »Ich weiß es nicht. Ich konnte mein Spiegelbild ja nicht sehen.«
    Ich lachte ebenfalls, und dieses so unvertraute Gefühl machte mich ganz albern. Scherzten wir etwa über unsere Tode?
    »Ist das Kleid gerade blau?«, fragte ich. »Oder bin ich klar wie Wasser?«
    »Jetzt?« Er starrte mich einen Moment lang an, den Telefonhörer immer noch an seinem Ohr. »Du bist silbern, wie Nimue.«
    Ich hatte noch so viele Fragen an ihn, doch ich konnte nicht bleiben.
    »Erzähl mir, wie es ist, in der Schule zu spuken.«
    »Ich muss jetzt gehen.«
    »Warte.« Er wollte nach meiner Hand greifen, doch es gelang ihm nicht. Ein Blitz aus Wärme schreckte mich auf. Er zögerte, bevor er weitersprach.
    »Miss Helen, du hast etwas an dir. Als ich dich beobachtete, wie du über Mr. Browns Schulter last, wie du ihm zuhörtest, wenn er Gedichte rezitierte. Mir fehlen die Worte«, sagte er. »Es war, als seist du der einzige Mensch auf der Welt, der mich verstehen könne. Und jetzt siehst du mich an und redest mit mir.« Er sprach sehr eindringlich in den
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