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Silberlicht

Silberlicht

Titel: Silberlicht
Autoren: Laura Whitcomb
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mir vor, blieb ich an ihrer Seite, voller Angst, dass ich wieder in die Hölle zurückgeworfen würde, wenn ich mich von ihr abwandte oder versuchte, mich an meine Vergangenheit zu erinnern.
    Schließlich schloss meine Retterin das Buch. Bei der Vorstellung, sie könne das Licht löschen, wenn sie zu Bett ging, überkam mich unbeschreibliche Angst. In Panik warf ich mich auf sie und barg meinen Kopf in ihrem Schoß wie ein untröstliches Kind. Das Buch fiel ihr aus den Händen und durch mich hindurch auf den Boden. Ein Blitz durchzuckte mich, schmerzlos und erschreckend. Meine Retterin beugte sich herab, um den Gedichtband aufzuheben, und als ihr Körper durch mich hindurchglitt, schien ich zu fallen und wieder aufzusteigen, als säße ich auf einer Kinderschaukel. Sie wirkte auf einmal sehr nachdenklich, legte das Buch sorgfältig unter die Lampe auf den Tisch neben sich und nahm Papier und Federhalter zur Hand. Sie tunkte die Feder in die Tinte und begann zu schreiben:
     
    »Ein Verehrer, gestützt auf ein Knie;
    Tod bat mich um meine Hand.«
     
    An den schwarzen Flecken an ihren Fingerspitzen konnte ich sehen, dass dies wohl nicht die ersten Zeilen waren, die sie in ihrem Leben geschrieben hatte. Ich wusste nicht, ob ich sie inspiriert hatte, doch ich betete, dass dem so war. Denn wenn ich etwas Gutes tat, würde mir vielleicht der Zutritt zum Himmel gewährt werden. Ich wusste, dass diese Heilige mich vor den Schmerzen gerettet hatte und dass ich ihr gehören würde bis zum Tage ihres Todes. Und so nannte ich sie »meine Heilige«. Sie war so selbstsicher wie eine Königin und so liebenswürdig wie ein Engel.
    Ich war auf ihre Welt beschränkt, ihr jedoch nicht gleichgestellt. Ich konnte mir ausmalen, dass wir Schwestern waren oder beste Freundinnen, doch in Wahrheit blieb ich immer nur ein Geist, der ihr Gesellschaft leistete. Ich war eine Gefangene, der man Ausgang aus den Kerkern gewährt hatte – mein Verbrechen und das Ausmaß meiner Strafe waren mir unbekannt, aber ich wusste, dass ich alles in meiner Macht Stehende tun würde, um nicht mehr gequält zu werden.
    Ich glitt um meine Heilige herum, allein in der fliedernen Luft ihres ländlichen Gartens, während sie Hunderte von Gedichten schrieb und ihr Haar und ihre Augen langsam weiß wurden.
    Eines Abends, als ich mit ihr die Straße entlang bis zu den Wäldern und zurück geschwebt war, hielten wir an, um eine Fliege zu betrachten, die in einem Netz zappelte und von einer Spinne auf einem Blatt beobachtet wurde. Ich konnte fühlen, dass meine Heilige ein Gedicht über die Spinne ersann und die Frage, ob sie wohl Gnade walten lassen würde. Doch ich merkte nicht, wie sie nach Hause eilte, um die Zeilen niederzuschreiben. Als ich mich nach ihr umwandte, war sie verschwunden.
    Zuerst dachte ich, dass sie mir nur ein paar Meter voraus sei, gleich hinter den Hecken in der Kurve der Straße. Ich lief auf unser Haus zu, doch es war zu spät. Der vertraute Schmerz kehrte zurück, hängte Schuhe aus Eis an meine Füße und kroch meine Beine hinauf, so dass ich mich nur mühsam voranschleppen konnte. Ich sah immer noch die Straße vor mir, doch als ich vornüberfiel, erfasste mich ein Wasserschwall, und kalte Wurzeln schossen meine Arme hinauf, in mein Herz. Ich rief nach ihr, bis sich mein Mund mit Wasser füllte. Der Abend war schwarz wie ein Grab, und ich befand mich wieder in der Hölle, die mir so vertraut war. Ich versuchte, das zu tun, was ich getan hatte, als ich zum ersten Mal ihre Stimme gehört hatte. Ich warf meine Hände nach vorne, tastete blind nach ihren Röcken, fühlte jedoch nichts als nasse Holzbretter. Verzweifelt hielt ich sie umklammert, erspürte eine Ecke, ein flaches Regal und dann noch eines. Ich zog mich an den Brettern hoch und ertastete einen Schuh. Die Dunkelheit schwamm in warmem Licht. Ich blickte auf und sah meine Heilige auf den hölzernen Stufen ihrer Speisekammer stehen, einen Stift in der einen, ein Blatt mit einem halb vollendeten Gedicht in der anderen Hand. Sie starrte in den dämmrigen Garten hinaus, als vermute sie einen Eindringling hinter ihren Rosenbüschen. Ich lag auf den Stufen, meine kraftlose Hand ruhte auf ihrem Schuh, und ich dankte Gott, dass er mich zu ihr zurückgelassen hatte. Von jenem Moment an war ich immer äußerst sorgsam darauf bedacht, nah bei meinen Bewahrern zu bleiben.
     
    Als der letzte Tag meiner Heiligen angebrochen war, hoffte ich brennend, dass sie mich mit in ihren Himmel nehmen würde.
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