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Siebzehn Silben Ewigkeit - Roman

Siebzehn Silben Ewigkeit - Roman

Titel: Siebzehn Silben Ewigkeit - Roman
Autoren: dtv
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Nächstes tun sollte. Zu Phase zwei schreiten? Würde er es wagen, seine verrückte Idee ganz umzusetzen?
    Er schlief ein und hatte einen seltsamen Traum. Er träumte von Gaston Grandpré, der mitten auf der Rue des Hêtres in den letzten Zügen lag, so wie er es auch in Wirklichkeit getan hatte, nur schien der Sterbende nichtim Geringsten zu leiden; vielmehr amüsierte er sich offensichtlich und zwinkerte Bilodo sogar wissend zu.

    Als Bilodo im Morgengrauen erwachte, beschloss er, seine Idee ganz umzusetzen. Zum ersten Mal in fünf Jahren rief er im Postamt an und meldete sich krank, um sich dann, ohne einen Kaffee zu trinken, in Grandprés Papiere zu vertiefen und unter Aufbietung seiner gesamten Kenntnisse der Kalligraphie dessen Handschrift zu studieren.
    Bei näherer Durchsicht der Unterlagen des Verstorbenen trat schon bald ein ungewöhnliches Detail hervor: Überall auf den Seiten und gelegentlich sogar mitten in einem Gedicht tauchte ein seltsames Symbol auf. Es handelte sich um einen mehr oder weniger verzierten Kreis   – vielleicht ja ein stilisiertes »O«?   –, den der Autor geradezu obsessiv überallhin gekritzelt zu haben schien. Hatte dieses »O« eine spezielle Bedeutung? Bilodo konnte nur Mutmaßungen anstellen. Die Schrift selbst war interessant, ausholend und voller Energie. Der Strich war kräftig, kantig, eine mutige Mischung aus Druck- und Kurrentbuchstaben, die tiefe Furchen in das Papier gruben. In etwa die Art von männlicher Handschrift, die Bilodo gern gehabt hätte. Jedenfalls fühlte er sich imstande, sie nachzuahmen: Er wählte einen Kugelschreiber, wie Grandpré ihn verwendet hatte, und kopierte mitzögerlicher Hand versuchsweise einige Auszüge aus den Gedichten des Verstorbenen.
    Der erste Schreibblock war kurz vor Ende des Vormittags aufgebraucht. Bilodos Abendessen bestand aus einer Dose Ölsardinen, die er im Stehen verzehrte, während er gedankenverloren auf den verworfenen Seiten herumtrampelte. Er machte sich erneut ans Werk, arbeitete bis zum Morgengrauen und musste dann wegen eines Krampfes aufhören. Während er sein schmerzendes Handgelenk massierte, war er einen Augenblick lang ganz niedergeschlagen und hätte um ein Haar aufgegeben, doch beim Gedanken an Ségolène, die auf ihrer Insel wartete, schöpfte er neuen Mut, griff nach seiner Feder und führte sie mit frischer Verve. Erst lange nach Einbruch der Dunkelheit gab sich Bilodo endlich zufrieden; es gelang ihm, die Handschrift des Toten einigermaßen nachzuahmen. Der zweite Schritt seines Plans war also geschafft, doch hütete er sich zu triumphieren und machte sich vielmehr an die nächste Aufgabe, die nicht unerheblich war. Die Kalligraphie war nämlich nicht alles; er musste herausfinden, was er schreiben sollte.
    Er hatte bis dahin tunlichst vermieden, darüber nachzudenken, und sich lieber dem technischen Aspekt seiner Aufgabe gewidmet, allerdings konnte er dies nun nicht länger aufschieben. Grandprés Handschrift nachzuahmen, war ja gut und schön, doch vor allem ging es darum, das zu schreiben, was Grandpré geschrieben hätte. Bilodo musste sich nunmehr in die unbekannten Gefildeder Poesie begeben und es irgendwie schaffen, ein Haiku zu verfassen, das vor Ségolènes Augen bestehen würde.

    Sein Talent, sich in die Wortwahl eines anderen hineinzudenken, nützte ihm in diesem Fall nichts: Bei Tagesanbruch hatte er lediglich »Wasser« zu Papier gebracht, das einzige Wort, das ihm Ségolènes letztes Haiku vom Wasserbaby eingegeben hatte, ohne dass ihm irgendetwas Intelligentes einfiel, das er sonst noch hätte schreiben können. Es ließ sich natürlich mit den verschiedensten Adjektiven verbinden: klares Wasser, frisches Wasser, stilles Wasser. Aber war das wirklich poetisch? Er verbrachte den Vormittag in einem tranceartigen Zustand, in dem Versuch, seinem »Wasser« etwas hinzuzufügen, das es transzendieren würde. Feuerwasser? Fließendes Wasser? Sprudelwasser?
    Wasserkopf?
    Als er sich einen kurzen Mittagsschlaf gönnte, träumte Bilodo, er würde ertrinken. Er wachte gerade noch rechtzeitig auf, um seine Lungen mit Sauerstoff zu füllen, und setzte sich erneut vor die leere Seite. Abwaschwasser? Geweihtes Wasser? Rasierwasser? Wasserwerk?
    Ins Wasser gehen?
    Übers Wasser wandeln?
    Während ihn die kreisenden Bewegungen, die Bill in seinem Glas vollführte, in ihren Bann zogen, gab er sicheinen Ruck und schrieb: »Ein Fisch im Wasser.« Das war schon mal ein fünfsilbiger Vers. Beinahe ein
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