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Siebzehn Silben Ewigkeit - Roman

Siebzehn Silben Ewigkeit - Roman

Titel: Siebzehn Silben Ewigkeit - Roman
Autoren: dtv
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Land der aufgehenden Sonne. Sein Blick fiel, wohin auch immer er sich richtete, auf die gemarterte Form eines Bonsai, einen Druck, eine Nippfigur, eine Statuette, die eine schmachtende Geisha, einen wissend lächelnden, beleibten Bonzen oder einen säbelschwingenden, argwöhnischen Samurai darstellte. Die wattierten Matten, die sich so seltsam angefühlt hatten, entpuppten sich als Tatamis, die wie die Teile eines riesigen Puzzles auf dem Fußboden angeordnet waren. Bei dem Ding, jenem eigentümlichen Objekt, das Bilodo auf seiner Flucht umgestoßen hatte, handelte es sich um einen bezaubernden kleinen Tisch aus Edelholz in der zarten Form eines auf seinem Stängel geneigten Blattes,der vermutlich zum Teetrinken gedacht war. Beiderseits des Schreibtisches, der allein eine westliche Note besaß, standen riesige Regale voller Bücher, während der andere Wohnzimmerbereich, der durch einen mit einer Hügellandschaft aus blühenden Kirschbäumen bemalten Wandschirm aus Papier abgetrennt war, vermutlich als Esszimmer diente und lediglich einen niedrigen, von bestickten Kissen umgebenen Tisch enthielt, auf dem ein kleiner Zen-Garten stand.
    Das Schlafzimmer war karg, nur mit einem Futon und einem Schrank ausgestattet, in dessen mit riesigen Spiegeln versehenen Schiebewänden man sich von Kopf bis Fuß sehen konnte. Was das Bad betraf, so enthielt es eine eigentümliche kleine Holzbadewanne, einen hohen, schmalen Trog, der sich, gewiss um das Ablassen des Wassers zu erleichtern, direkt in einer anderen, herkömmlichen Badewanne befand.
    Grandpré war demnach ein Anhänger der japanischen Lebensart gewesen. Was für einen inbrünstigen Haiku-Liebhaber kaum verwunderlich schien. Bei dem extravaganten roten Bademantel, den er nie ablegte, handelte es sich offenbar um einen Kimono, der nunmehr in irgendeinem düsteren Schrank des Leichenschauhauses verstaut war, es sei denn, man hatte ihn zusammen mit seinem Besitzer verbrannt.
    Die Anrichte in der Küche sah makellos aus und der Schimmelgeruch war verflogen: Madame Brochu hatte sich darum gekümmert. Die zerbrochene Scheibe in derTür war erneuert worden. Nichts deutete darauf hin, dass erst kürzlich in die Wohnung eingebrochen worden war. Etwas verlegen gestand Madam Brochu, der Vormieter, der offenbar weder Erben noch nahe Verwandte besaß, habe ihr seine Möbel mitsamt seinen Habseligkeiten testamentarisch vermacht. Die Arme empfand es als Bürde, sich auf eigene Kosten darum kümmern zu müssen, doch Bilodo erkannte darin eine unverhoffte Chance: Sein Angebot, die Wohnung in diesem Zustand, mit allem, was sich darin befand, zu mieten, nahm Madame Brochu bereitwillig an. Wenige Minuten später unterzeichnete Bilodo seinen Mietvertrag und nahm den Schlüssel seiner neuen Bleibe in Empfang. Er frohlockte insgeheim, überzeugt, endlich Mittel und Wege gefunden zu haben, die poetische Hürde zu überwinden. Wie ließen sich die Geheimnisse von Grandprés Seele besser durchdringen, als sein natürliches Umfeld zu erkunden, so zu leben, wie er selbst gelebt hatte? Während Bilodo die verschiedenen Räume durchstreifte, überlief ihn angesichts der ergiebigen Fundstätte eines Lebens, die nur darauf wartete, erkundet zu werden, ein freudiger Schauer. Er würde überall graben, die Atmosphäre des Ortes in sich aufnehmen, jeden noch so zarten Duft aufsaugen. Er würde sich die schwindende Aura dessen, der vor ihm in diesen Wänden gelebt hatte, einverleiben, alles über ihn in Erfahrung bringen und sich schließlich so sehr in seine Denkweise hineinversetzen, dass es ihm sodann ein Leichtes wäre, zu erahnen, zu erspüren, was Grandpré geschrieben hätte.

9
    Bilodo entdeckte weder eine Leiche in Grandprés Schränken noch irgendetwas Fragwürdiges in seinem Kühlschrank und auch in der Anrichte bis auf einen üppigen Vorrat an Tee und mehrere Sakeflaschen nichts wirklich Bemerkenswertes. Dafür stieß er in den Schubladen der Kommode sowie im Wäschekorb auf etliche einzelne Socken und fragte sich, inwiefern dieses duftende Rätsel wohl etwas über die Psyche des Verstorbenen aussagte. Hatte Grandpré Socken aus Waschautomaten entwendet? Hatte er sie gesammelt? Hatte er sich bei Vollmond in einen Tausendfüßler verwandelt? Abgesehen davon enthielt die Wohnung nichts Ungewöhnliches. Am stärksten beeindruckten Bilodo die vielen Bücher in den Regalen. Natürlich stammten die meisten von japanischen Autoren. Hunderte von Bänden mit exotischen Titeln und Namen standen dort
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