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Siebzehn Silben Ewigkeit - Roman

Siebzehn Silben Ewigkeit - Roman

Titel: Siebzehn Silben Ewigkeit - Roman
Autoren: dtv
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wie aus Kübeln. Um sich ins Trockene zu retten, schloss Robert den Briefkasten und beförderte den Sack ins Postauto. Er würde jeden Augenblick losfahren. Da der Wunsch, sein Haiku auf den Weg zu bringen, so übermächtig war, gab Bilodo sich einen Ruck und stieß einen lauten Schrei aus, um die Aufmerksamkeit des Postbeamten auf sich zu lenken. Der wandte sich um und erkannte ihn. Mit dem Brief in der Hand sprang Bilodo die Stufen hinunter und rannte auf die überflutete Straße. Der andere, der Briefträger, fuchtelte mit den Armen, rief ihm etwas Undeutliches zu, dann ertönte ein durchdringendes Hupen, und es gab einen Knall.
    Um Bilodo herum drehte sich alles, in Zeitlupe, wie in einem Traum. Er wirbelte durch den Raum und wusste nicht, wie ihm geschah, dann gab es einen zweiten Knall und die Welt wurde wieder stabil, schwer und hart unter seinem Rücken. Der Himmel blitzte und donnerte, befeuerte seine Augen mit Regen. Er versuchte vergeblich, sich zu rühren, und merkte, dass er fürchterliche Schmerzen hatte. Zwischen das Gewitter und ihn schobsich eine Silhouette. Ein vertrautes Gesicht: Robert. Dann tauchte ein zweites Gesicht auf, das des Briefträgers, ihm ebenfalls vertraut, allerdings aus einem anderen Grund: Es war sein eigenes. Das Gesicht des Briefträgers war das des einstigen Bilodo, des Bilodo vor der Metamorphose, jenes Bilodo mit den glatt rasierten Wangen und klaren Augen, der er früher einmal gewesen war.
    Er war es, sein früheres Ich, das ihn von dort oben ansah.

23
    Wie war es möglich, dass er gleichzeitig auf dem nassen Asphalt lag und von dort oben sich selbst zusah? War das Hexerei? Bilodo wollte es unbedingt begreifen, bevor es zu spät war, und die Antwort wurde ihm wie von einer inneren Stimme gegeben, die ihm den Wortlaut des ersten und letzten Haiku aus Grandprés Gedichtband zuflüsterte:
     
    So wie das Wasser
    den Felsen umspült
    verläuft die Zeit in Schleifen
     
    Genau das geschah in diesem Moment. Die Vergangenheit wiederholte sich. Die Zeit führte ihn an der Nase herum. Während sie den Felsen inmitten der Strömung, den Augenblick von Grandprés Todeskampf, umspülte,war die Zeit wie in einem Strudel gefangen und bildete eine Schleife, von der Bilodo festgehalten wurde.
    Hatte Grandpré das geahnt? Hatte er bei der Niederschrift des Haiku gewusst, dass es prophetisch war?
    Ein schleifenförmiges Leben. Bilodo war in den Untiefen der Zeit gestrandet. Die Absurdität war so gewaltig, so überwältigend, dass er trotz der quälenden Schmerzen lachen musste. Er lachte und schluckte dabei den Platzregen, und je mehr er lachte, desto komischer fand er es. Dann schnürte sich seine Kehle zu, und sein Gelächter verstummte. Im Grunde war es alles andere als lustig. Es war sogar tragisch: Schließlich starb er, ohne jeglichen Trost, ohne das tröstliche Wissen darum, dass sein Tod eine Befreiung sein würde, denn er brauchte nur den anderen Bilodo zu sehen, jenen gespannten Blick, den dieser auf den Brief in seinen Fingern richtete, um zu wissen, dass der Film damit nicht zu Ende wäre, dass auch er an die Reihe kommen und die Schleife sich fortsetzen würde und auch ihn, den nach ihm und jeden weiteren in den Tod reißen würde, bis in alle Ewigkeit. Das war die grausame Wahrheit: Bilodo war zu einem sich ewig wiederholenden Tod verurteilt, und nichts konnte diesen Fluch abwenden. Es sei denn   …
    Den Brief zurückhalten? Verhindern, dass er in den Gully trieb? Ihn lange genug zurückhalten, damit der andere ihn an sich nehmen und zweifellos lesen und vielleicht ja beschließen würde, ihn abzuschicken, wodurch sein Leben auf eine andere Zeitschiene geriete?Woher sollte man das wissen? Wäre die Schleife dadurch aufgelöst und der Fluch gebannt? Er nahm die ganze ihm noch verbleibende Kraft zusammen und schickte sie in die Finger seiner rechten Hand, die den Brief eine Spur fester hielten. Er schloss die Augen, um seine Willenskraft besser zu bündeln, und auf der Leinwand seiner geschlossenen Lider erschien ein ungewöhnliches Bild: ein roter Kreis oder vielmehr ein sich drehendes Feuerrad.
    Wieder diese verflixte Schleife. Die Schlange biss sich in den Schwanz. Die Zeit fraß sich selbst auf.
    Plötzlich tauchten in Bilodos Erinnerung jene geheimnisvollen letzten Worte auf, die Grandpré vor seinem letzten Atemzug gestammelt hatte: »im Schuh« hatte er gehört. Er hatte in dem Moment nicht verstanden, worum es ging, doch jetzt wusste er es mit erschlagender
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