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Siebzehn Silben Ewigkeit - Roman

Siebzehn Silben Ewigkeit - Roman

Titel: Siebzehn Silben Ewigkeit - Roman
Autoren: dtv
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nieder und transkribierte einige Wörter aus einer Zeitung oder etwas aus der Speisekarte, ganz versunken in die choreographischen Schwünge der Feder auf dem Papier, während die Auf- und Abstriche seiner Kursivschrift Walzer tanzten, seine opulente Unziale Volten vollzog oder seine gotische Schrift mit dem Säbel rasselte, wobei er sich gern als einer jener wackeren mittelalterlichen Kopisten-Mönche sah, die allein von Tinte und frischem Wasser lebten, ihr Augenlicht einbüßten und sich die Finger abfroren, dabei aber gewiss auch ihre Seele wärmten. Bilodos Kollegen von der Post hatten dafür kein Verständnis. Wenn sie mittags als grölende Schar ins »Madelinot« einfielen, machten sie sich über seine kalligraphischenVersuche lustig und taten sie als Kritzeleien ab. Bilodo nahm es ihnen nicht übel, schließlich waren sie seine Freunde und verstanden eben nichts davon; wie sollte man auch, wenn man kein erleuchteter, glühender Adept war wie er, die subtile Schönheit eines Striches, die ausgewogenen Proportionen einer gelungenen Zeile schätzen können? Die einzige Person, die dafür einen Sinn zu haben schien, war Tania, die stets freundliche Kellnerin, die sich offenbar ernsthaft für seine Arbeit interessierte und beteuerte, sie gefalle ihr. Zweifellos eine sensible junge Frau. Bilodo mochte sie gern. Er gab ihr immer ein großzügiges Trinkgeld. Wäre er eine Spur aufmerksamer gewesen, hätte er bemerkt, dass sie ihn häufig von ihrem Platz nahe der Kasse aus beobachtete und ihm, wenn das Dessert an der Reihe war, immer das größte Kuchenstück brachte, aber das fiel ihm nicht weiter auf. Oder wollte er es nur nicht sehen?
    Bilodo schenkte anderen Frauen keine Beachtung mehr, seitdem Ségolène in sein Leben getreten war.

    Bilodo wohnte im neunten Stockwerk eines Hochhauses, in einer mit Filmplakaten geschmückten Dreizimmerwohnung, die er mit Bill, seinem Goldfisch, teilte. Abends spielte er
Halo 2
oder
Dungeon Keeper
und aß danach vor dem Fernseher Fertiggerichte. Er ging fast nie aus. Nur hin und wieder freitags, wenn Robert nicht lockerließ.Robert, sein Arbeitskollege, war mit der Leerung der Briefkästen beauftragt und außerdem sein bester Freund. Robert ging häufig aus, beinahe jeden Abend, doch Bilodo begleitete ihn nur selten, weil er für die verrauchten Diskos, ohrenbetäubenden Raves und Nachtclubs mit nackten Tänzerinnen, in die sein Freund ihn mitschleppte, nichts übrig hatte. Er blieb lieber zu Hause, fern von allem irdischen Treiben und weiblichen Hinterteilen, und das erst recht, seit Ségolène in sein Leben getreten war.
    Jedenfalls wusste er mit seinen Abenden Besseres anzufangen. Bilodo war zu Hause abends sehr beschäftigt. Nach dem Fernsehen und Geschirrspülen verriegelte er die Tür und widmete sich seinem geheimen Laster.

2
    Bilodo war kein Briefträger wie jeder andere.
    In den Stapeln von seelenlosem Papierkram, die er auf seiner Runde austeilte, stieß er hin und wieder auf einen persönlichen Brief, ein in dieser Ära der elektronischen Post immer selteneres und gerade deswegen umso faszinierenderes Objekt. Bilodo empfand dann jedes Mal ein Glücksgefühl wie ein Goldwäscher, der in seinem Sieb einen Goldklumpen entdeckt. Einen solchen Brief stellte er nicht zu. Jedenfalls nicht gleich. Er nahm ihn mit nach Hause und öffnete ihn über Wasserdampf. Damit war er abends in der Zurückgezogenheit seiner Wohnung so beschäftigt.
    Bilodo war ein neugieriger Briefträger.
    Er selbst bekam nie persönliche Post. Er hätte gern welche bekommen, stand aber niemandem nahe genug, um mit ihm zu korrespondieren. Eine Zeit lang hatte er sich selbst Briefe geschickt, was jedoch eine enttäuschendeErfahrung gewesen war. Er hatte allmählich damit aufgehört und vermisste es auch nicht wirklich; er sehnte sich nicht nach sich selbst. Viel faszinierender waren die Briefe anderer. Echte Briefe, von echten Menschen verfasst, die der reptilienartigen Kälte der Tastatur und Unmittelbarkeit des Internets den sinnlichen Akt des Schreibens, das köstliche Schmachten des Wartens vorzogen   – Menschen, die sich bewusst dafür entschieden und in manchen Fällen erahnen ließen, dass es sich um eine Frage des Prinzips handelte, um eine bewusste Haltung zu Gunsten einer Lebensweise, die weniger bestimmt war vom Wettrennen gegen die Zeit und von der Pflicht zu funktionieren.
    Da waren die heiteren Briefe der Doris T. aus Maria von der Halbinsel Gaspésie an ihre Schwester Gwendoline, in denen
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