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Siebzehn Silben Ewigkeit - Roman

Siebzehn Silben Ewigkeit - Roman

Titel: Siebzehn Silben Ewigkeit - Roman
Autoren: dtv
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dünne Matte, mit der auch die übrigen Räume ausgelegt zu sein schienen. Vom Flur gingen drei Türen aus. Die erste führte in das Schlafzimmer, die zweite in ein kleines Bad. Gegenüber befand sich das Wohnzimmer, das durch einen großen Paravent in zwei Hälften geteilt war. Bilodo schlich an einer niedrigen, bizarren Skulptur vorbei hinter den Wandschirm und stand vor einem Schreibtisch neben einem Sessel auf Rädern. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass die Jalousien geschlossen waren, ließ er sich darauf nieder.
    Der Strahl der Taschenlampe offenbarte, während er über den Schreibtisch schweifte, einen Computer, einen Kalender, einige Nippsachen, ein Lexikon, Kugelschreiber sowie diverse Papiere. Bei deren Durchsicht entdeckte Bilodo sogleich, wonach er suchte: handbeschriebene Blätter, in einer Schrift, die nur Grandprés sein konnte. Im ersten Schubfach machte er eine noch aufregendere Entdeckung: Gedichte in der Handschrift des Verstorbenen, Haikus. Ein ganzer Stapel. Und gleich daneben stieß er auf die von Ségolène, ihre Original-Haikus, von denen er nur Kopien besaß. Und außerdem auf ihr Foto! Überwältigt bewunderte Bilodo ihr Lächeln, das Balsam für seine Seele war, jenen sanften Mandelblick, der ihn zum Träumen brachte, dann roch er an den geweihten Blättern, die Ségolènes Hand gehalten hatte, die noch immer nach ihrem Parfum dufteten, und küsste sie. Fürdiesen glückseligen Augenblick hatte sich das Risiko bereits gelohnt, doch damit war es noch nicht genug: Bilodo setzte seine Suche fort und erkundete auch die restlichen Schubladen. Mehr als alles andere hoffte er, den Entwurf zu Grandprés letztem Brief aufzuspüren, der schändlich vom Gully verschluckt worden war, denn dies war das eigentliche Anliegen des waghalsigen Unternehmens, doch blieb ihm kaum Zeit für weitere Erkundungen: Er hörte Stimmen von draußen, von Leuten, die sich auf der Treppe unterhielten. Bilodo sprang auf und knipste seine Taschenlampe aus. Bloß Nachbarn, die zu einem oberen Stockwerk hinaufgingen? Oder die Polizei, die den erbärmlichen Einbrecher, der er war, in flagranti ertappen würde? Abzuwarten kam nicht in Frage: Bilodo steckte so viele Papiere wie nur irgend möglich in seine Jackentasche und ergriff die Flucht, wobei er die blödsinnige Skulptur im Wohnzimmer umstieß. Er rettete sich über den Hinterausgang, sprang die Stufen hinunter und stürmte in Windeseile ans Ende der Gasse. Erst zwei Häuserblocks weiter, als er sicher sein konnte, dass ihm niemand auf den Fersen war, verlangsamte er seinen Schritt. Er bemühte sich, möglichst gelassen zu wirken, um nur ja nicht auf sich aufmerksam zu machen, doch sein Herz hüpfte nach wie vor und schlug wie eine Trommel.

    Nachdem sich Bilodo vom Schweiß des Verbrechens gründlich gereinigt hatte, setzte er sich an seinen Tisch und las erneut Ségolènes Haikus. Freudig stellte er fest, dass die kleinen Gedichte ihre ganze Kraft wiedererlangt hatten. Dann machte er mit Bills stillschweigendem Einverständnis eine Bestandsaufnahme von den übrigen entwendeten Papieren, wobei sein hauptsächliches Interesse Grandprés Haikus galt, in denen er eine Bestätigung sah für das, was er schon seit geraumer Zeit vermutete: Die beiden schickten einander Gedichte   – vielmehr hatten sie das getan. Grandprés Haikus schienen sich indessen von denen Ségolènes deutlich zu unterscheiden, nicht etwa in der Form, sondern in ihrer Geisteshaltung:
     
    So wie das Wasser d
    en Felsen umspült
    verläuft die Zeit in Schleifen
     
    Smog über der Stadt
    sie raucht viel zu viel
    Emphysem unvermeidlich
     
    Wühlen das Meer auf
    und beugen den Wald
    lassen die Erde seufzen
     
    Schön schlau der Hase
    taucht aus dem Loch auf
    wo ihn keiner erwartet
     
    Nach dem Horizont
    hinter die Kulissen späh’n
    den Tod umarmen
     
    Diese Art von Poesie war düsterer als die Ségolènes, dramatischer, jedoch nicht minder beschwörend: Grandprés Haikus ließen einen ebenfalls die Dinge sehen, wenn auch durch eine verdunkelte Linse. Es waren an die hundert. Leider gab es keine Nummerierung. Nichts wies darauf hin, in welcher Reihenfolge sie verfasst oder an Ségolène geschickt worden waren. Keinerlei Indiz ließ darauf schließen, welches Haiku das Letzte war, das seine Adressatin nie erreicht hatte.
    Bilodo stellte das Original von Ségolènes Foto auf seinen Nachttisch und fragte sich, im Dunkeln liegend, was er jetzt, da der erste Schritt seines Plans vollzogen war, als
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