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Sieben Siegel 02 - Der schwarze Storch

Sieben Siegel 02 - Der schwarze Storch

Titel: Sieben Siegel 02 - Der schwarze Storch
Autoren: Kai Meyer
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der einen Seite, die Rezeption auf der anderen. Die Theke war säuberlich aufgeräumt und schimmerte frisch poliert.
    Nirgends war eine Menschenseele zu sehen.
    »Lisa!«
    Sie schrak zusammen, als sie ihren Namen so deutlich hörte. Wieder war es nur ein Flüstern gewesen, scharf und zischelnd. Und es klang gar nicht weit entfernt.
    Die Stimme war eindeutig männlich gewesen. Nils aber hörte sich anders an, selbst wenn er flüsterte. War es demnach Chris, der sie rief?
    Irgendwie war das alles sehr sonderbar.
    »Chris?«, fragte Lisa leise, als sie am Fuß der Freitreppe ankam. »Chris, bist du das?«
    Schweigen. Niemand gab Antwort.
    »Das ist nicht besonders witzig«, sagte sie, allmählich ein wenig ärgerlich.
    Die Notbeleuchtung spendete gelbliches Zwielicht; sie schuf mehr Schatten, als sie vertrieb. Hin und wieder flackerte eine der alten Lampen, und in manchen waren die Glühbirnen gänzlich ausgefallen. Auch die Beleuchtung des Kerkerhofs hatte eine Generalüberholung nötig.
    »Lisa!«
    Schon wieder ihr Name. Was für ein Spiel trieben die anderen? Langsam wünschte sie sich, sie wäre im Bett geblieben. Verfluchte Neugier! Nun stand sie also hier, frierend, nur im Nachthemd und mit nackten Füßen, und sie fühlte sich plötzlich sehr allein. Schutzlos.
    Ja, das war das richtige Wort. Die Frage war nur, vor wem sie eigentlich Schutz nötig hatte. Hier war doch niemand außer ihr selbst und ihren drei Freunden.
    Oder?
    Sei kein Feigling, schalt sie sich.
    Also weiter.
    Das letzte Flüstern war eindeutig durch die große Doppeltür an der Westseite der Eingangshalle gekommen. Dahinter lagen der Speisesaal, die ungenutzten Konferenzräume und, ganz am Ende des Gangs, der alte Ballsaal.
    Die Küche, in der sie Chris vermutet hatte, lag in einer anderen Richtung. Was, zum Teufel, hatte er hier unten verloren?
    Lisa gab sich einen Ruck und lief zu der Doppeltür. Sie stand ein Stück weit offen. Statt sie ganz aufzuziehen, zwängte Lisa sich lieber durch den Spalt. Das war unauffälliger.
    Der Speisesaal war so menschenleer wie alle anderen Teile des Hotels. Die Stühle standen kopfüber auf den Tischen. Es gab mindestens zwei Dutzend Sitzgruppen in dem riesigen Raum, die meisten waren nur vage Formen im Schatten. Hinter jeder konnte sich ein Mensch verstecken. Zum ersten Mal, seit sie aufgestanden war, spürte Lisa, dass ihr Herz schneller schlug. Sie konnte es sogar pochen hören, tief in ihrer Brust. Sie war viel aufgeregter, als sie sich eingestehen wollte.
    »Chris?«, fragte sie unsicher in die Dunkelheit. »Kyra?«
    Niemand antwortete ihr.
    Lisa durchquerte den Speisesaal um einiges schneller, als sie eigentlich vorgehabt hatte. Aber ihre Sorgen blieben unbegründet – niemand sprang zwischen den Tischen hervor, keiner überraschte sie mit einem plötzlichen »Buuuh!«.
    Sie erreichte die nächste Tür und betrat den düsteren Korridor, von dem die Türen der Konferenzräume abzweigten. Leere. Stille.
    Und dann wieder: »Lisa!«
    »Ach, verdammt noch mal!«, fluchte sie und lief den Gang hinunter. »Ich weiß, dass ihr hier irgendwo seid. Okay, ihr habt mir Angst eingejagt. Reicht das? Dann kommt endlich raus!«
    Aber das Kichern, das sie erwartet hatte, blieb aus. Auch traten keine Gestalten in Schlafanzügen aus den Schatten.
    Spätestens dies wäre der Augenblick zur Umkehr gewesen. Aber Lisa wollte sich nicht so leicht geschlagen geben. Zudem war sie sicher, dass die anderen über sie herfallen würden, sobald sie ihnen den Rücken zuwandte.
    Weiter. Bis ans Ende des Korridors.
    Dort blieb sie vor dem hohen Portal des alten Ballsaals stehen. Hier hatten schon seit Jahren keine Feste mehr stattgefunden. Die blind gewordenen Spiegel an den Wänden, die verblichenen Deckenmalereien und Stuckschnörkel erinnerten an vergangene Zeiten, als hier noch rauschende Ballnächte veranstaltet wurden. Jetzt aber verrottete der Saal von Jahr zu Jahr ein wenig mehr. Ein trauriger Anblick. Keiner aus der Familie kam gerne hierher, am wenigsten die Kinder.
    Die uralten Schwingtüren quietschten, als Lisa sie nach innen drückte.
    Wie angewurzelt blieb sie stehen. Ihre Hände sanken kraftlos nach unten. Die Schwingtüren schlossen sich wieder, verbargen den Blick ins Innere des Ballsaals.
    Aber Lisa hatte bereits etwas gesehen. Etwas, das es nicht geben konnte.
    In ihrem Kopf schrillten hundert Alarmsirenen. Dreh dich um! Lauf weg! Verschwinde von hier!
    Aber Lisa blieb stehen. Gab den Schwingtüren einen neuen
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