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Sieben Siegel 02 - Der schwarze Storch

Sieben Siegel 02 - Der schwarze Storch

Titel: Sieben Siegel 02 - Der schwarze Storch
Autoren: Kai Meyer
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leeren Speisesaal, durch die Eingangshalle und die Treppe hinauf. Die Korridore schienen sich vor ihr wie Gummischläuche ins Endlose zu dehnen.
    Endlich erreichte sie ihr Zimmer. Sprang hinein. Warf die Tür hinter sich zu und drehte den Schlüssel herum.
    Draußen auf dem Flur herrschte Stille.
    Kein Kreischen mehr, keine klappernden Schritte.
    Einmal noch war Lisa, als höre sie vor ihrem Fenster mächtigen Flügelschlag. Doch als sie angstvoll hinaussah, war vor der Scheibe nur Finsternis.
    Und falls aus der Schwärze zwei leere Augen hereinstarrten, so verbarg die Nacht sie gnädig unter einer Decke aus Dunkelheit.

Das Nest
    »Ein schwarzer Storch? Drei Meter groß?« Nils schüttelte ungläubig den Kopf. »Das hast du geträumt.«
    Lisa funkelte ihren Bruder böse an. Er hatte strohblondes Haar wie sie selbst. »Ich hab nicht geträumt!«, fuhr sie ihn an. »Der Storch war da! Unten im Ballsaal!«
    Die Geschwister standen auf dem Flur vor ihren Zimmern. Durch die offenen Türen fiel der Schein der Morgensonne. Lisa hatte gehofft, dass die Erlebnisse der Nacht bei Tageslicht weniger Furcht erregend erscheinen würden. Eben wie Träume. Stattdessen war sie jetzt nur noch überzeugter, dass ihre Begegnung mit dem Storch tatsächlich stattgefunden hatte. Genauso wie der Maskenball.
    »Du spinnst«, meinte Nils schulterzuckend. Dafür hätte sie ihm am liebsten eine gescheuert.
    Ein Pfiff ertönte vom anderen Ende des Korridors, dann eine Stimme: »Schöner Morgen, was?«
    Chris und Kyra kamen den Gang herunter auf die Geschwister zu und gesellten sich zu ihnen.
    Chris trug wie immer schwarze Jeans und ein schwarzes Sweatshirt. Auch sein Haar war pechschwarz. Unnötig, seine Lieblingsfarbe zu erwähnen. Er grinste zur Begrüßung und sagte gleich: »Habt ihr auch solchen Hunger? Warum steht ihr dann noch so rum? Kommt, wir gehen frühstücken.«
    Kyra warf ihm einen strafenden Blick zu. »Nicht alle sind so verfressen wie du.« Sie hatte sehr wohl bemerkt, dass Lisa und Nils gerade miteinander stritten.
    Kyras dunkelrotes Haar hing ihr offen über die Schultern. Manchmal steckte sie es genauso wild hoch wie ihre Tante Kassandra, mit einem Dutzend Spangen und Gummis und Haarnadeln, aber nicht heute. Sie sah verschlafen aus und wirkte keineswegs so gut gelaunt wie Chris.
    »Also, was ist los?«, fragte sie ungeduldig.
    Lisa druckste noch einen Moment lang herum, aber Nils platzte gleich mit der Wahrheit heraus: »Lisa sagt, sie hat Gespenster gesehen.«
    »Ich hab kein Wort von Gespenstern gesagt«, brauste seine Schwester auf.
    »’tschuldigung, einen Storch … natürlich.« Er zog eine Grimasse, fletschte die Zähne und krümmte die Finger wie ein Werwolf. »Und er war böööse …«
    Lisa streckte ihm die Zunge heraus, obwohl sie ihm insgeheim etwas weitaus Schlimmeres antun wollte. Nils war nicht immer eine solche Nervensäge, aber manchmal, wenn es ihn überkam, konnte er unerträglich sein. Fand zumindest seine Schwester.
    »Welche Art von Gespenstern?«, fragte Kyra besorgt.
    Alle drei schauten sie verwundert an – sogar Lisa, die eigentlich hätte dankbar sein müssen, dass jemand sie ernst nahm.
    Kyra sah von einem zum anderen. »Habt ihr es denn nicht bemerkt?«
    »Was bemerkt?«, fragte Nils.
    Chris seufzte und ließ sich mit dem Rücken gegen die Wand fallen. »Kyra meint die Siegel. Sie sind heute Nacht sichtbar geworden.« Er schob seinen rechten Ärmel hoch und zeigte den anderen die sieben Male, die auf seiner Haut erschienen waren.
    Nils, der offenbar im selben Sweatshirt geschlafen hatte, das er auch jetzt noch trug, fiel aus allen Wolken. Hektisch raffte er seinen Ärmel nach oben und erstarrte.
    Auch er trug die Sieben Siegel.
    Lisa nickte. »Ich hab meine schon beim Waschen gesehen.« In spitzem Tonfall wandte sie sich an ihren Bruder: »Waschen – sagt dir das Wort was?«
    »Ha, ha«, machte Nils mürrisch.
    Kyra hielt ihren nackten Unterarm neben Lisas. Auf beiden schimmerten die Male. Sie sahen aus wie uralte Schriftzeichen.
    »Wie war das also mit den Gespenstern?«, fragte Kyra noch einmal.
    Lisa erzählte alles, was sie in der Nacht erlebt hatte – und diesmal wurde sie nicht mehr von Nils unterbrochen. Schweigend und geduldig lauschte er ihrem Bericht.
    Nachdem sie geendet hatte, schob sie schnell ihren Ärmel hinunter. Aber die Kälte, die sie schaudern ließ, kam von innen. Die bloße Erinnerung an den Teufelsstorch verursachte ihr eine heftige Gänsehaut.
    Ihren Freunden erging es
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