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Sieben Siegel 02 - Der schwarze Storch

Sieben Siegel 02 - Der schwarze Storch

Titel: Sieben Siegel 02 - Der schwarze Storch
Autoren: Kai Meyer
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einzujagen. Plötzlich war die Vorstellung, noch eine Weile lang wach zu bleiben, gar nicht mehr so übel.
    Sie huschte lautlos zur Tür und öffnete sie einen Spaltbreit. Vorsichtig schaute sie hinaus. Der Korridor schien verlassen zu sein. Weit jedoch konnten die anderen noch nicht gekommen sein. Lisa hatte auch keine Türen scheppern hören; das bedeutete wohl, dass ihre Freunde noch immer durch die Gänge geisterten.
    Ganz kurz überkamen sie Zweifel. Was, wenn die anderen ihr einen Schrecken einjagen wollten? Dann lief sie ihnen geradewegs in die Falle.
    Aber, nein. Sie wären gewiss in ihr Zimmer gekommen und hätten sie schon beim Aufwachen erschreckt. Mit einer von Nils’ Monstermasken zum Beispiel. Oder mit dem Gestank einer der schrecklichen Teemischungen, die Kyras Tante Kassandra zusammenmixte.
    Lisa schlich hinaus auf den Korridor und ließ ihre Zimmertür angelehnt. Sollte sie sich nach rechts oder links wenden? Zur Rechten lagen die Zimmer der anderen, zur Linken machte der Gang nach ein paar Metern eine Biegung – dies war die Richtung, um in die übrigen Flügel des Kerkerhofs zu gelangen.
    Sie entschied sich für die zweite Möglichkeit. Wenn es Chris war, den sie hatte flüstern hören, würde er mit ziemlicher Sicherheit einen Abstecher in die Speisekammer des Hotels machen. Chris hatte ständig Hunger – und ungerechterweise wurde er kein bisschen dicker bei all seiner Esserei! Im Gegenteil, Chris blieb immer schlank und sportlich. Lisa fand, dass er ziemlich gut aussah.
    Ob Kyra das auch fand? Lisa vermutete, dass Chris ein Auge auf ihre rothaarige Freundin geworfen hatte. Seit sie Chris beim Kampf gegen den mächtigen Hexenmeister Abakus kennen gelernt hatten, verstanden er und Kyra sich verdächtig gut – auch wenn sie nach außen hin nur zu selten einer Meinung waren.
    Lisa erreichte die Stelle, wo der Flur eine Biegung machte. Zu beiden Seiten führten Türen in die leeren Hotelzimmer. In den meisten waren die Möbel mit weißen Staublaken verhangen – das waren die Räume, die seit Jahren niemand mehr betreten hatte.
    Die Vorstellung, dass all diese Zimmer einmal Zellen gewesen waren, in denen die Insassen des Irrenhauses dahinvegetiert hatten, war kein erfreulicher Gedanke. Lisa hatte gelernt, die Geschichte des Kerkerhofs zu verdrängen. Meist gelang ihr das recht gut.
    Nur jetzt nicht. Ausgerechnet in der Stunde nach Mitternacht.
    Dies war die Stunde, in der die Vergangenheit die Hand nach dem Heute ausstreckte. Die Stunde rätselhafter Laute und eiskalter Luftzüge. Die Stunde der Angst.
    Lisa schlich an den hohen Türen vorbei und hatte bei jeder das Gefühl, dass sie sich hinter ihrem Rücken öffnete. Doch immer, wenn sie über ihre Schulter sah, waren alle Türen geschlossen.
    Auf den Fluren des Kerkerhofs brannte die ganze Nacht über eine Notbeleuchtung. Lisa wagte nicht, die Hauptlichter einzuschalten, weil das ihre Freunde gewarnt hätte. Dann wäre es vorbei mit der Überraschung – und mit dem Schrecken auf ihren Gesichtern, wenn Lisa sie aus dem Dunkeln ansprang.
    Sie bog noch um zwei weitere Ecken, ehe sie die Balustrade erreichte, die sich im ersten Stock um die große Eingangshalle zog. Von dort aus führte eine geschwungene Freitreppe hinab ins Erdgeschoss. Am Tag war es eine Treppe wie aus einem Märchenschloss, bei Nacht aber glich sie eher den Stufen einer Spukburg.
    Von ihren drei Freunden entdeckte Lisa keine Spur. Das wunderte sie ein wenig. Hatten die drei sie bemerkt und sich deshalb versteckt? Oder waren sie einfach nur schneller gelaufen als Lisa?
    Sie blieb auf den oberen Stufen der Freitreppe stehen und lauschte erneut in die Nacht. Knistern und Knacken gehörte in einem so alten Haus zur üblichen Geräuschkulisse. Umso erstaunter war Lisa, als sie nicht den leisesten Laut vernahm. Kein Rascheln, kein Knarren. Rein gar nichts. Es war, als hätte man das gesamte Gemäuer mit Watte ausgestopft.
    Da! Wieder das Flüstern!
    Lisa hatte es genau gehört, aber sie konnte nicht verstehen, was gesprochen wurde. Dennoch war ihr, als hätte sie ihren Namen herausgehört. Sprachen die anderen etwa über sie, wenn sie nicht dabei war? Das machte sie noch neugieriger und trieb sie eiliger die Treppe hinunter.
    Die Eingangshalle war riesig. Ihre Höhe erstreckte sich über drei Stockwerke. Mächtige Säulen stützten die Decke. An den Wänden hingen gemalte Porträts und vergilbte Bilder aus den Anfängen der Fotografie. Ein gewaltiger offener Kamin befand sich auf
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