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Sie und Er Botschaften aus parallelen Universen

Sie und Er Botschaften aus parallelen Universen

Titel: Sie und Er Botschaften aus parallelen Universen
Autoren: Jürgen von der Lippe
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und zwar gemeinsam mit einer passenden Klasse des in Nonnenhand befindlichen Mädchengymnasiums St. Ursula. Also Zustände, wie sie Papst Benedikt aus seiner Jugend auch schon kannte und schätzte. Und hier begann das Drama, oder besser gesagt, hier begann die Entwicklung Mitteleuropas in Richtung postreligiöses Zeitalter. Denn die Opinion-leader unserer Klasse, die Hipsters, die Jungs ganz oben auf der Hackordnung, die finanziell und hormonell besser gestellten, verkehrten privat mit Schülerinnen der evangelischen Viktoriaschule und setzten in einem nur der Erstürmung der Bastille ver-gleichbaren Handstreich die erste ökumeni-sche Tanzstunde in unserer Schulgeschichte durch, was den Direktor und insbesondere die Religionslehrer in eine tiefe Sinnkrise stürzte.
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    Nun hat der Tanz an sich vielfältige Funk-tionen: Ehrung der Ahnen, Magie, er kann Bestandteil von Zeremonien sein, wenn jemand die gesellschaftliche Rolle wechselt, Initiation, Ausbildungsabschluss, politische Nachfolge, aber auch Geburt und Tod können durch den Tanz zelebriert werden. Das erfährt man alles, wenn man bei Encarta unter Tanz nachguckt. Wahnsinn. Für den pubertierenden Klemmie der Vor-68er-Zeit, der Aufzucht und Hege in reinen Jungsklas-sen genoss, bedeutete Tanz nur eines: Mä-
    dels näher zu kommen als auf Schlagdistanz.
    Eigentlich hätte mir der Klammerblues, wie wir ihn zwischen den schnellen Tänzen spä-
    ter auf unseren Wochenendpartys oder beim Jugendtanz praktizierten, vollauf gereicht, aber Tanzen ist halt Kultur, und das bedeutet laut olle Freud Triebverzicht.
    Wegen eines ca. dreiminütigen Körperkontakts muss ich mir also die hochkomplexen Moves von Mambo, Discofox, Cha-Cha und Konsorten draufschaffen, muss auf Takt und Grundrhythmus achten, Bewegungsablauf, Körperhaltung, Beinarbeit, dabei ist alles, was ich brauche, der Blues-Pendel-Grund-schritt mit seinen eineinhalb Takten und House of the Rising sun von den Animals, das lief nämlich siebeneinhalb Minuten! Da konnte man aber schon ein paar Mal mit den unegalen Fottfingern die weibliche Wirbelsäule rauf- und runterklettern, rechts und links auf Hals und Ohr hauchen oder – kurz vor Schluss – Beckenkontakt herstellen in der Hoffnung, dass die Partnerin die schon 161
    lange lauernde Erektion auch zu schätzen wüsste.
    Mehr gibt es eigentlich zu diesem Thema nicht zu sagen, außer vielleicht noch, dass ich schon als Adoleszent dazu neigte, in ge-ordneten Verhältnissen zu leben, d. h. ich fragte frühzeitig ein Mädchen, ob sie mit mir zum Mittelball gehen wolle. Sie wollte.
    Daraufhin war ich eine Woche nicht an-sprechbar, mein Zustand kann mit Entrük-kung, Verzückung o. Ä. nur unzureichend wiedergegeben werden, die Neurologie
    spricht, glaube ich, in ähnlichen Zusammenhängen von Frontallappenepilepsie, jedenfalls kam sie in der nächsten Woche mit einem anderen, wesentlich älteren Burschen an und hatte keinen Blick mehr für mich.
    Luschen wie Goethes Werther hätten sich jetzt aus dem Verkehr gezogen, ich hingegen fragte einfach ein anderes Mädchen.
    Zugegeben, sie gefiel mir nicht, aber auch keinem anderen, und hier ging es ja erstmal um seelische Schadensbegrenzung. Nun, ich ging mit ihr zum Mittelball, verbrachte den ganzen Abend mit ihr und ihren Eltern, tanzte nur mit ihr und einmal mit ihrer Mutter und machte die erstaunliche Entdeckung, dass ich einer der wenigen Männer mit Charakter war. Die meisten anderen Eleven nämlich hatten sich keineswegs auf eine Partnerin festgelegt und betanzten mit diebi-schem Vergnügen eine Dame nach der anderen, wobei sie meine Partnerin natürlich –
    vermutlich aus Respekt – ausließen.
    Und weil es so schön war, ging ich mit ihr auch auf den Abschlussball und hatte erst 162
    ein halbes Jahr später den Mumm, Schluss zu machen. Wegen unüberbrückbarer Diffe-renzen.
    Seitdem assoziiere ich mit Tanzen auch oft ein Bild, wie man es aus alten Westernfil-men kennt: Die Banditen lassen den Dorf-trottel tanzen, indem sie ihm mit den Bal-lermännern vor die Füße schießen.
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