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Sie sehen dich

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Titel: Sie sehen dich
Autoren: H Coben
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Hill, ein Klassenkamerad von Adam, hatte vier Monate zuvor Selbstmord begangen. Natürlich war das ein einschneidendes Erlebnis gewesen, das Adam und seine Klassenkameraden schwer mitgenommen hatte. Mike hatte Tia daran erinnert.
    »Meinst du nicht, dass gerade das eine Erklärung für sein Verhalten sein könnte?«
    »Spencers Selbstmord?«
    »Klar.«

    »Zu einem gewissen Grad schon. Aber du weißt doch selbst, dass er sich vorher schon verändert hat. Das hat sich dadurch nur noch beschleunigt.«
    »Wenn wir ihm also mehr Freiraum geben …«
    »Nein«, hatte Tia in einem Tonfall gesagt, der die Diskussion sofort beendet hatte. »Die Tragödie mag Adams Verhalten verständlicher machen  – ungefährlicher wird das Ganze dadurch aber nicht. Ganz im Gegenteil.«
    Mike hatte eine Weile darüber nachgedacht. »Aber wir müssen es ihm sagen«, hatte er dann eingewandt.
    »Was?«
    »Wir müssen Adam sagen, dass wir seine Aktivitäten im Internet überwachen.«
    Sie hatte das Gesicht verzogen. »Und was soll das dann noch bringen?«
    »Er muss doch wissen, dass er beobachtet wird.«
    »Es geht doch nicht darum, einen Polizisten auf jemanden anzusetzen, damit er nicht zu schnell Auto fährt.«
    »Doch, genau darum geht es.«
    »Das führt doch nur dazu, dass er solche Sachen bei einem Freund oder irgendwo im Internetcafé macht.«
    »Na und? Wir müssen’s ihm sagen. Adam gibt seine ganz persönlichen Gedanken in diesen Computer ein.«
    Tia war noch einen Schritt näher an ihn herangetreten und hatte ihm eine Hand auf die Brust gelegt. Selbst nach all den Jahren zeigte ihre Berührung noch Wirkung. »Er steckt in Schwierigkeiten, Mike«, hatte sie gesagt. »Begreifst du das nicht? Dein Sohn hat Probleme. Vielleicht trinkt er Alkohol oder nimmt Drogen oder wer weiß was. Hör auf, deinen Kopf in den Sand zu stecken.«
    »Ich stecke meinen Kopf nirgendwohin.«
    Ihre Stimme hatte einen fast flehentlichen Ton angenommen. »Du suchst wie immer den einfachen Ausweg. Hoffst du immer noch, dass Adam da mit der Zeit rauswächst?«

    »Das mein ich nicht. Aber überleg doch mal. Das ist eine ganz neue Technologie. Er vertraut diesem Computer seine geheimsten Gedanken und Sehnsüchte an. Hättest du gewollt, dass deine Eltern alles über dich erfahren?«
    »Wir leben heute in einer anderen Welt«, hatte Tia gesagt.
    »Bist du sicher?«
    »Es kann doch nichts schaden. Wir sind seine Eltern. Wir wollen doch nur sein Bestes.«
    Noch einmal hatte Mike den Kopf geschüttelt. »Man will doch nicht sämtliche intimen Gedanken eines Menschen kennen«, hatte er gesagt. »Manche Dinge müssen einfach geheim bleiben dürfen.«
    Sie hatte die Hand von seiner Brust genommen. »Du sprichst von Geheimnissen?«
    »Ja.«
    »Willst du damit sagen, dass jeder seine Geheimnisse haben darf?«
    »Selbstverständlich.«
    Sie hatte ihn mit einem seltsamen Blick angesehen, der ihm ganz und gar nicht geheuer gewesen war.
    »Verheimlichst du mir was?«, hatte sie gefragt.
    »So hab ich das nicht gemeint.«
    »Verheimlichst du mir was?«, hatte sie die Frage wiederholt.
    »Nein. Aber ich will auch nicht, dass du alle meine Gedanken kennst.«
    »Und meine willst du auch nicht wissen?«
    Danach hatten beide einen Moment lang geschwiegen, dann hatte sie das Thema gewechselt.
    »Wenn ich vor der Wahl stehe, ob ich meinen Sohn beschützen oder seine Privatsphäre respektieren soll«, hatte Tia gesagt, »dann entscheide ich mich fürs Beschützen.«
    Diese Meinungsverschiedenheit  – Mike wollte es nicht als Streit betrachten  – hatte sie fast einen Monat lang beschäftigt.
Mike hatte versucht, ihren Sohn wieder etwas näher an sie heranzuziehen. Er hatte Adam ins Einkaufszentrum eingeladen, in die Mall, sogar zu Konzerten. Adam hatte alles abgelehnt. Er war nachts immer sehr spät nach Hause gekommen, ohne sich darum zu kümmern, welche Uhrzeit sie ausgemacht hatten. Er war zum Abendessen nicht mehr aus seinem Zimmer heruntergekommen. Seine Schulnoten waren schlechter geworden. Es war ihnen gelungen, ihn zu einem Besuch bei einem Therapeuten zu überreden. Der Therapeut hatte gemutmaßt, dass eine Depression dahinterstecken könnte. Er hatte eine medikamentöse Behandlung vorgeschlagen, Adam aber vorher noch einmal sehen wollen. Adam hatte das rundheraus abgelehnt.
    Als sie ihn drängten, noch einmal zum Therapeuten zu gehen, verschwand Adam für zwei Tage. Er ging nicht ans Handy. Mike und Tia waren außer sich gewesen. Hinterher hatte sich
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