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Sie sehen dich

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Titel: Sie sehen dich
Autoren: H Coben
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die Vorverhandlung nach.«
    Hester runzelte die Stirn. »Gut. Der Kerl ist nämlich ein verlogener Haufen Scheiße. Verstanden?«
    »Ein Haufen Scheiße«, wiederholte Tia.
    »Genau. Es ist nämlich absolut unmöglich, dass er das, was er da erzählt, wirklich gesehen hat. Das kann überhaupt nicht sein. Verstanden?«
    »Und das soll ich beweisen.«
    »Nein.«
    »Nein?«
    »Nein. Ganz im Gegenteil.«
    Tia runzelte die Stirn. »Jetzt kann ich Ihnen nicht folgen. Ich soll nicht beweisen, dass er ein verlogener Haufen Scheiße ist?«
    »Genau.«
    »Könnten Sie mir das erklären?«
    »Liebend gerne. Ich möchte, dass Sie dem Mann gegenübersitzen, eine Frage nach der anderen stellen und sich alle Antworten mit einem freundlichen Nicken anhören. Tragen Sie enge, körperbetonte Kleidung, vielleicht sogar einen tiefen Ausschnitt. Lächeln Sie ihn an, als ob das Ihre erste gemeinsame Verabredung wäre und Sie alles, was er sagt, faszinierend fänden. In Ihrer
Stimme darf auch nicht der leiseste Anflug eines Zweifels zu hören sein. Jedes einzelne seiner Worte ist die reine Wahrheit.«
    Tia nickte. »Er soll offen reden.«
    »Genau.«
    »Sie wollen alles in der Akte haben. Seine ganze Geschichte.«
    »Auch das ist richtig.«
    »Damit Sie das arme Schwein dann bei der Hauptverhandlung richtig in die Mangel nehmen können.«
    Hester zog eine Augenbraue hoch. »Und zwar mit allem Elan, den man zu Recht von mir erwartet.«
    »Okay«, sagte Tia. »Verstanden.«
    »Ich werd ihm seine eigenen Eier zum Frühstück servieren. Ihre Aufgabe dabei besteht also gewissermaßen darin, die Lebensmittel zu besorgen  – um im Bild zu bleiben. Kriegen Sie das hin?«
    Der Bericht von Adams Computer  – was sollte sie damit machen? Als Erstes musste sie Mike Bescheid sagen. Damit sie sich zusammensetzen und darüber nachdenken konnten, was sie als Nächstes unternahmen.
    »Tia?«
    »Ja, das krieg ich hin.«
    Wieder blieb Hester stehen. Sie trat einen Schritt auf Tia zu. Sie war mindestens fünfzehn Zentimeter kleiner als Tia, aber auch das kam Tia nicht so vor. »Wissen Sie, warum ich Sie dafür ausgewählt habe?«
    »Weil ich einen Abschluss der Columbia-Universität habe, eine verdammt gute Anwältin bin und Sie mir in dem halben Jahr, seit ich für Sie arbeite, nur Jobs gegeben haben, die selbst ein Rhesusaffe ohne große Mühe hätte erledigen können?«
    »Nein.«
    »Warum dann?«
    »Weil Sie alt sind.«
    Tia sah sie an.
    »Nein, nicht so. Na ja, wie alt sind Sie? Mitte vierzig? Ich bin
mindestens zehn Jahre älter. Aber die anderen angestellten Anwälte hier sind noch Babys. Die wollen Helden sein. Sie würden versuchen, ihre Fähigkeiten unter Beweis zu stellen.«
    »Und wieso würde ich das Ihrer Meinung nach nicht versuchen?«
    Hester zuckte die Achseln. »Wenn Sie es versuchen, sind Sie raus.«
    Darauf konnte Tia nichts sagen, also hielt sie den Mund. Sie senkte den Kopf und musterte die Akte, ihre Gedanken kehrten aber immer wieder zurück zu ihrem Sohn, seinem verdammten Computer und dem verdammten Bericht.
    Hester wartete ein paar Sekunden lang. Sie sah Tia mit ihrem berühmten Blick an, mit dem sie schon viele Zeugen zum Reden gebracht hatte. »Warum haben Sie sich für diese Kanzlei entschieden?«, fragte Hester.
    »Ganz ehrlich?«
    »Wenn möglich.«
    »Ihretwegen«, sagte Tia.
    »Muss ich mich geschmeichelt fühlen?«
    Tia zuckte die Achseln. »Sie wollten die Wahrheit hören. Und die lautet, dass ich Ihre Arbeit schon seit langem bewundere.«
    Hester lächelte. »Ja. Ich bin echt cool.«
    Tia wartete.
    »Aber was noch?«
    »Das ist eigentlich alles«, sagte Tia.
    Hester schüttelte den Kopf. »Da steckt noch mehr dahinter.«
    »Ich kann Ihnen nicht folgen.«
    Hester setzte sich auf ihren Schreibtischstuhl. Mit einer Geste forderte sie Tia auf, auch Platz zu nehmen. »Soll ich auch das erklären?«
    »Gerne.«
    »Sie haben sich für diese Kanzlei entschieden, weil sie von einer Feministin geleitet wird. Weil Sie hoffen, dass ich verstehe,
warum Sie sich eine jahrelange Auszeit genommen haben, um Ihre Kinder großzuziehen.«
    Tia sagte nichts.
    »Habe ich Recht?«
    »Zum Teil.«
    »Eins muss Ihnen dabei aber auch klar sein: Im Feminismus geht es nicht darum, anderen Frauen zu helfen. Es geht um Gleichberechtigung. Es geht darum, Frauen Möglichkeiten zu eröffnen, und nicht, ihnen Garantien zu liefern.«
    Tia wartete.
    »Sie haben sich für die Mutterschaft entschieden. Sie sollten nicht dafür bestraft werden. Aber Sie
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