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Sie sehen dich

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Titel: Sie sehen dich
Autoren: H Coben
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verletzen.
    Sie musste sich übergeben.

    »Toilette«, stieß sie hervor.
    »Ich helf Ihnen.«
    Wieder Strohhaar.
    Marianne rutschte vom Hocker. Kräftige Hände griffen ihr unter die Arme und hielten sie aufrecht. Jemand  – Strohhaar  – führte sie nach hinten. Sie stolperte in Richtung Toilette. Ihre Kehle war vollkommen ausgetrocknet. Die Bauchschmerzen waren so stark, dass sie sich vornüber krümmte.
    Die kräftigen Hände stützten sie weiter. Marianne sah vor sich auf den Boden. Es war dunkel. Sie sah nur ihre schlurfenden Füße, die sie kaum noch heben konnte. Sie blickte hoch, sah die Tür zur Damentoilette vor sich und fragte sich, ob sie es noch bis dahin schaffen würde. Sie schaffte es.
    Und dann ging sie daran vorbei.
    Strohhaar stützte sie immer noch unter den Armen. Sie führte Marianne an der Toilettentür vorbei. Marianne versuchte, stehen zu bleiben. Ihr Körper hörte nicht auf den Befehl. Sie wollte etwas sagen, ihrer Retterin mitteilen, dass sie an der Tür vorbeigegangen waren, aber auch ihr Mund reagierte nicht.
    »Da lang geht’s raus«, flüsterte die Frau. »Das ist besser.«
    Besser?
    Ihr Körper wurde gegen die Verriegelungsstange eines Notausgangs gedrückt. Die Tür öffnete sich. Der Hinterausgang. Klar, dachte Marianne, warum sollte man die Toilette einsauen. Eine Gasse hinter dem Haus war besser. Da konnte sie auch frische Luft schnappen. Frische Luft. Frische Luft konnte vielleicht helfen.
    Die Tür schwang auf und knallte gegen die Wand. Marianne taumelte nach draußen. Die frische Luft tat ihr tatsächlich gut. Viel brachte sie allerdings nicht. Der Schmerz war immer noch da. Aber wenigstens war es jetzt angenehm kühl auf der Haut.
    In diesem Moment sah sie den Lieferwagen.
    Er war weiß und hatte dunkel getönte Fenster. Die Hecktüren standen offen, erwarteten sie wie ein riesiger Mund, der sie
am Stück verschlingen wollte. Und neben diesen offenen Türen stand der Mann mit dem buschigen Schnurrbart. Er packte Marianne und schob sie hinten in den Lieferwagen.
    Marianne versuchte, sich aufzurichten, kam aber nicht hoch.
    Schnurrbart warf Marianne wie einen Sack Torf hinten in den Lieferwagen. Mit einem dumpfen Schlag fiel sie auf die Ladefläche. Schnurrbart kletterte hinterher, schloss die Türen von innen und stellte sich vor sie. Marianne krümmte sich auf dem Boden vor Schmerz. Ihr Unterleib tat immer noch weh, noch schlimmer war jedoch die Angst.
    Der Mann zog sich den Schnurrbart ab und lächelte auf sie herab. Der Wagen setzte sich in Bewegung. Offenbar fuhr Strohhaar.
    »Hi, Marianne«, sagte er.
    Sie bekam kaum Luft und konnte sich nicht bewegen. Er hockte sich neben sie, holte aus und schlug ihr kräftig in den Bauch.
    Die Schmerzen waren schon vorher unerträglich gewesen, jetzt steigerten sie sich in eine neue Dimension.
    »Wo ist das Video?«, fragte er.«
    Und dann fing er an, ihr richtig wehzutun.

2
    »Sind Sie sicher, dass Sie das machen wollen?«
    Manchmal rannte man über eine Klippe. Das war wie in einem Zeichentrickfilm, wenn Coyote Karl mit vollem Tempo rannte und auch dann noch weiter rannte, wenn er schon längst über den Rand der Klippe hinaus war. Irgendwann merkte er, dass etwas nicht stimmte, sah nach unten und akzeptierte resignierend, dass er abstürzen würde und nichts dagegen tun konnte.
    Aber manchmal, vielleicht sogar meistens, wusste man nicht genau, ob man wirklich abstürzte. Es war dunkel, man stand ziemlich
nah am Rand der Klippe, bewegte sich zwar langsam und vorsichtig, wusste aber gar nicht genau, in welche Richtung man ging. Man tastete sich mit behutsamen Schritten voran, ohne zu wissen, wohin. Man ahnte nicht einmal, wie nah man am Abgrund stand, rechnete nicht damit, dass die weiche Erde nachgeben könnte, dass man nur einmal kurz abzurutschen brauchte, um plötzlich ins Nichts zu stürzen.
    Mike wurde erst in dem Augenblick bewusst, wie nah Tia und er diesem Abgrund standen, als der Softwarespezialist, dieser smarte, junge Programmierer mit den dünnen, tätowierten Armen, den langen, schmutzigen Fingernägeln und dem Rattennest auf dem Kopf, sich zu ihnen umdrehte, und mit für sein Alter viel zu besorgter Stimme genau diese Frage stellte:
    »Sind Sie sicher, dass Sie das machen wollen …?«
    Keiner von ihnen hatte in diesem Zimmer etwas zu suchen. Mike und Tia Baye (sprich: Bye, wie in bye-bye ) waren zwar in ihrem eigenen Haus  – einem zu einem McMansion aufgeblasenen ehemaligen Splitlevel im typischen Vorort
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