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Titel: Sie
Autoren: Henry Rider Haggard
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strahlend schönen Lebens. Sei bereit!«

26
     
    Was wir sahen
     
     
    Es folgte eine kurze Pause, in der Ayesha all ihre Kraft für die Feuerprobe zu sammeln schien, während wir dicht aneinandergedrängt in tiefem Schweigen warteten.
    Endlich ertönte aus weiter Ferne das erste leise Grollen, das immer lauter anschwoll, bis es in Krachen und Donnern überging. Als Ayesha es hörte, warf sie rasch ihren Schleier ab, löste den Schlangengürtel, hüllte sich in ihr langes Haar und streifte unter dessen Schutz ihr Gewand ab, worauf sie den Gürtel wieder um die wallenden Wogen ihres Haares legte. So wie Eva vor Adam gestanden haben mochte, stand sie vor uns, nur umhüllt von üppigen Locken, welche das goldene Band zusammenhielt; und keine Worte reichen aus, zu schildern, wie schön sie war, wie göttlich schön. Immer näher rollten des Feuers Donnerräder, und während sie ihrer harrte, streckte sie ihren Elfenbeinarm durch die dunkle Flut ihres Haares und legte ihn um Leos Hals.
    »Oh, mein Geliebter, mein Geliebter!« flüsterte sie, »wirst du je wissen, wie sehr ich dich liebte?«, und nachdem sie ihn auf die Stirn geküßt, trat sie nach kurzem Zögern in den Weg der Lebensflamme.
    Ihre Worte und der Kuß, welchen sie auf Leos Stirne hauchte, rührten mich zutiefst. Er glich dem Kuß einer Mutter, und es schien, als wolle sie ihn damit segnen.
    Das Donnergrollen nahte, und es klang, als ob ein mächtiger Sturm einen Wald niederreiße, als hebe er ihn dann wie Gras empor und schleudere ihn krachend einen Hang hinab. Näher und näher kam es; jetzt flammten Blitze auf, Vorboten der sich drehenden Feuersäule schossen Pfeilen gleich durch den rosigen Schein; und jetzt erschien der Rand der Säule selbst. Ayesha wandte sich ihr zu, die Arme ihr zum Gruß entgegenstreckend. Ganz langsam schwebte sie heran und umhüllte sie mit ihren Flammen. Ich sah, wie das Feuer züngelnd ihren Leib emporkroch. Ich sah, wie sie es mit beiden Händen gleich Wasser schöpfte und über ihren Kopf goß. Ich sah den Mund sie öffnen und es tief in ihre Lungen saugen, und es war ein schaurigschönes Bild. Dann hielt sie inne, streckte ihre Arme aus und stand ganz still, ein himmlisches Lächeln auf ihrem Antlitz, als sei sie selbst der Geist des Feuers.
    Die geheimnisvollen Flammen umspielten die Wogen ihrer dunklen Locken, wie goldene Fäden sich durch und um sie windend; sie liebkosten ihre weiße Brust und Schulter, von der das Haar herabgeglitten war; sie strichen über ihren schlanken Hals und ihre zarten Züge und schienen ihre Augen mit überirdischem Glänze zu erfüllen.
    Oh, wie war sie schön in dieser Flamme! Kein Engel des Himmels konnte sie an Liebreiz übertreffen. Noch heute stockt mein Herzschlag, wenn ich daran denke, wie sie so dastand, lächelnd über unsere Furcht, und mit Freuden würde ich die Hälfte der auf dieser Erde mir noch zugemessenen Zeit dafür geben, sie noch einmal so zu sehen.
    Doch plötzlich – schneller als ich es beschreiben kann – veränderte sich ihre Miene, auf eine Weise, die sich weder schildern noch erklären läßt. Das Lächeln verschwand, und ein düsterer, harter Blick trat an seine Stelle; das rundliche Gesicht schien sich zu verzerren, als drücke eine große Angst ihm seinen Stempel auf. Der Glanz in ihren Augen erlosch, ja es schien gar, als schwinde ihrer Gestalt makellose Form und Anmut.
    Ich rieb mir die Augen, mich das Opfer einer Sinnestäuschung wähnend, und während ich es tat, entfernte sich die Flammensäule donnernd und kehrte, Ayesha stehenlassend, in den unbekannten Schoß der Welt zurück.
    Sobald sie verschwunden war, trat Ayesha wieder an Leos Seite – ihr Schritt war, wie mir schien, nicht mehr so federnd – und streckte ihre Hand aus, um sie auf seine Schulter zu legen. Ich starrte auf ihren Arm. Wo war seine wundervolle Rundung und Schönheit? Er wurde dünn und dürr, und ihr Gesicht – beim Himmel! –, ihr Gesicht alterte vor meinen Augen! Vermutlich sah es Leo ebenfalls, denn er wich einen Schritt zurück.
    »Was ist dir, mein Kallikrates?« sagte sie, und ihre Stimme wo war der tiefe Wohlklang ihrer Stimme? Sie klang fast schrill und kreischend.
    »Wie ist mir denn?« sagte sie verwirrt. »Mir ist so schwindlig. Die Eigenschaft des Feuers kann sich doch nicht geändert haben. Ist es möglich, daß das Prinzip des Lebens sich ändert? Sag mir, Kallikrates, was ist mit meinen Augen? Ich kann nicht klar sehen«, und sie hob die Hand und legte sie auf ihr
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