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Titel: Sie
Autoren: Henry Rider Haggard
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Haar – und o Schrecken aller Schrecken! – es fiel zu Boden.
    »Oh, seht! – seht! – seht!« kreischte Job in höchstem Entsetzen, und seine Augen traten ihm fast aus dem Kopf, und Schaum trat auf seine Lippen. »Seht! – seht! – seht! Sie schrumpft zusammen! Sie wird zu einem Affen«, und schäumend und zähneknirschend stürzte er, von einem Krampf gepackt, zu Boden.
    Und in der Tat – mir schwinden heute noch, während ich dies niederschreibe, vor dieser gräßlichen Erinnerung die Sinne –, sie begann zu schrumpfen! Die goldene Schlange, die ihre liebliche Gestalt umschlossen hatte, glitt über ihre Hüften und fiel zu Boden; immer kleiner wurde sie; ihre Haut verfärbte sich, und das makellose schimmernde Weiß wurde zum schmutzigen Braun und Gelb eines alten, zerfallenden Pergaments. Sie griff nach ihrem Kopf: die zarte Hand war nur noch eine Klaue, eine menschliche Kralle, wie man sie bei schlecht erhaltenen Mumien sieht; und dann schien ihr bewußt zu werden, welche Veränderung mit ihr vor sich ging, und sie schrie auf – mein Gott, was für ein Schrei! – und wälzte sich schreiend auf dem Boden.
    Immer und immer kleiner wurde sie, bis sie nicht mehr größer war als ein Affe. Tausend Runzeln durchzogen ihre Haut, und ihr häßliches Gesicht trug den Stempel unsagbaren Alters. Ich habe dergleichen nie gesehen; kein Mensch auf Erden sah je solch grauenhaftes Alter wie jenes, das ihr Gesicht prägte, das nicht mehr größer war als das eines Säuglings, obgleich der Schädel immer noch die gleiche Größe hatte, und alle Menschen mögen darum beten, daß sie vor solchem Anblick bewahrt bleiben, wollen sie ihren Verstand behalten.
    Endlich lag sie ganz still oder schien nur ganz schwach sich noch zu rühren. Sie, vor zwei Minuten noch das schönste, edelste, herrlichste Weib, das je die Welt gesehen, lag regungslos vor uns, neben sich die Lockenpracht ihres eigenen dunklen Haares, nicht größer als ein Affe und häßlich – ach, so häßlich, daß es sich nicht schildern läßt! Und doch, man bedenke – in jenem Augenblick kam mir der Gedanke – war es dasselbe Weib.
    Sie lag im Sterben: wir sahen es und dankten Gott dafür – denn solange sie lebte, fühlte sie, und was muß sie gefühlt haben? Sie stützte sich auf ihre knochigen Hände und blickte mit trüben Augen um sich, den Kopf gleich einer Schildkröte langsam hin und her bewegend. Sicherlich konnte sie nichts mehr sehen, denn eine hornige Haut bedeckte ihre weißen Augen. Oh, wie grauenhaft war dieser Anblick! Nur sprechen konnte sie noch immer.
    »Kallikrates«, sagte sie mit heiserer, bebender Stimme. »Vergiß mich nicht, Kallikrates. Habe Mitleid mit meiner Schmach; ich sterbe nicht. Ich werde wiederkommen und wieder schön sein, ich schwöre es – es ist wahr! Oh – oh –«, und sie verstummte und fiel auf ihr Gesicht.
    Auf derselben Stelle, wo sie vor mehr als zwanzig Jahrhunderten Kallikrates, den Priester, getötet hatte, sank jetzt Ayesha selbst nieder und starb.
    Von Grauen überwältigt, stürzten auch wir auf den sandigen Boden dieses gräßlichen Ortes nieder und fielen in Ohnmacht.
    Wie lange wir so lagen, weiß ich nicht – wahrscheinlich viele Stunden. Als ich endlich die Augen öffnete, lagen die beiden anderen noch immer ausgestreckt auf dem Boden. Wieder strahlte das rosige Licht in himmlischem Glanz, und die Donnerräder des Lebensgeistes rollten ihre gewohnte Bahn, denn als ich erwachte, verschwand die große Feuersäule eben. Und da lag auch, umhüllt von geschrumpfter gelber Pergamenthaut, der abscheuliche kleine Affenkörper, welcher einst die strahlend schöne ›Sie‹ gewesen war. Ach, es war kein böser Traum – es war schreckliche, unfaßbare Wirklichkeit!
    Was hatte diese grauenhafte Wandlung bewirkt? Hatte die Natur des lebensspendenden Feuers sich verändert? Strahlte es vielleicht von Zeit zu Zeit statt eines Lebensfluidums ein Fluidum des Todes aus? Oder konnte ein mit dieser wunderbaren Kraft bereits erfüllter Körper eine Steigerung derselben nicht ertragen, so daß bei einer Wiederholung des Prozesses die beiden Aufladungen einander neutralisierten und den Körper in jenen Zustand versetzten, in dem er sich befinden würde, wenn das Lebensfluidum nie auf ihn eingewirkt hätte? Nur so war Ayeshas plötzliches und schreckliches Altern, in dem die ganze Länge ihrer zweitausend Jahre zutage trat, zu erklären. Es gab für mich nicht den leisesten Zweifel, daß die Gestalt, die dort vor mir
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