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Sich lieben

Sich lieben

Titel: Sich lieben
Autoren: Jean-Philippe Toussaint
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Leicht verwirrt, wie ich war, mußte ich in die falsche Richtung gegangen sein, schien es mir doch, als hätte ich mehrfach auf dem Stockwerk eine Runde gedreht, bevor ich endlich auf den Treppenabsatz stieß. Dort drückte ich alle Knöpfe auf einmal, um den Aufzug heranzurufen, und nach einer Weile sah ich, wie ein orangefarbenes Kontrollämpchen aufleuchtete, verbunden mit einem Tonsignal, das kurz und durchdringend auf dem menschenleeren Treppenabsatz ertönte, um das Nahen eines Lifts anzukündigen. Die Aufzugtüren öffneten sich vor mir. Mechanisch trat ich in die Kabine, drückte auf gut Glück den Knopf vom letzten Stockwerk. Der Lift stieg lautlos nach oben, und ich rührte mich nicht, ich hörte mein Herz schlagen, an der Wange spürte ich ein Kribbeln.
    Mehrere Alptraumbilder verfolgten mich, fragmentarische Szenen aus letzter Zeit, die in flüchtigen Blitzen meines Bewußtseins aufschienen, gleißende Halluzinationen, die in rotem Leuchten und schwarzem Schatten zerstoben: ich, nackt in der Dunkelheit des Badezimmers, wie ich mit all meinen Kräften die Salzsäure in die Visage im Spiegel schüttete, um meinen Blick nicht mehr zu sehen, oder ich, noch immer, ruhiger und weitaus beängstigender, die Flasche Salzsäure in der Hand, den nackten Körper Maries betrachtend, wie sie ausgestreckt im Bett liegt, ihre nackten Beine und ihr Geschlecht vor mir, ihr Gesicht zugebunden mit der Seidenbrille, das sanfte Atmen ihrer schlafenden Brust, ich, wie ich innerlich mit mir rang und in einer weitausholenden Bewegung, schreiend, mich von ihr abwandte und das große Fenster des Zimmers mit einem Säurespritzer besprengte, der auf dem Glas zu brodeln, um den Krater zu knirschen und zu dampfen begann in einer klebrigen Masse aus geschmolzenem und aufschwellendem Glas, das in langen sirupartigen und schwärzlichen Schlieren die Scheibe hinuntertröpfelte.
    Im 27. Stock angekommen, stieß ich auf mehrere geschlossene Türen, versperrte Ausgänge. Die Beleuchtung war über Nacht auf dem Stockwerk ausgeschaltet worden, so daß in der Dunkelheit nur noch die fluoreszierenden grünen Sigel der Notausgänge blieben, die in ihren transparenten Masken leuchteten: EXIT, EXIT, EXIT. Ich hörte, wie die Aufzugstüren sich hinter mir schlossen. Ich folgte zu meiner Rechten einem sehr dunklen Gang, in dem da und dort vereinzelt Nachtbeleuchtungen hingen, die ein weißliches Licht ausstrahlten und dem Ort etwas Mond- und Gespensterhaftes verliehen. Am Ende des Gangs stieß ich auf eine doppelte Glastür mit goldenen Türrahmen, über der ein nautisches Wappen und ein bläuliches Schild prangten, auf dem in verwaschenen Neonbuchstaben Health Club zu lesen war. Die Tür gab nicht nach, als ich sie zu öffnen versuchte, doch als ich die Türrahmen näher in Augenschein nahm, bemerkte ich, daß die beiden Riegel mit Bajonettfassung, die die Tür verschlossen hielten, einer oben mit der halbrunden Falle, die nach oben in eine Schließkappe führte, und der andere unten, außen angebracht waren und nicht innen. Ich brauchte also nur die beiden Stifte aus ihrer Schließkappe zu lösen, um die Tür halb zu öffnen und mich ins Innere zu zwängen. Nachdem ich mich umgedreht hatte, aus Furcht, von jemandem ertappt worden zu sein, der auf dem Flur etwas Ungewöhnliches bemerkt hatte, durchquerte ich hastig eine leere Empfangshalle und trat geräuschlos in einen menschenleeren Gymnastikraum, in dem sich meine Augen allmählich an die Dunkelheit gewöhnten, machte ein paar Schritte zwischen den Hanteln und diversen Geräten zur Stärkung von Herz und Kreislauf, Ruder- und Laufvorrichtungen, einer Reihe von radlosen medizinischen Laufrädern, lediglich nackte Rahmen, schlichte vertikale Gerüste, die wie zerbrochene oder amputierte Metallvögel aussahen. Überall an den Wänden hingen große Spiegel in der Dunkelheit, vertikale Triptychen, die meine nicht erkennbare Silhouette ins Unendliche widerspiegelten. Ich zögerte zunächst, welchen Weg ich weitergehen sollte, kehrte um und nahm eine gekachelte Innentreppe, auf der es nach Seife und Chlor roch. Ich hatte keine Ahnung, wo sie hinführte, und stieg langsam die Stufen nach oben, mich dabei am Geländer festhaltend, als plötzlich vor mir Tokio in der Nacht auftauchte, wie ein künstliches Theaterdekor aus Schatten und zitternden Lichtpunkten hinter der Glasfensterfront des Schwimmbads.
    Das Wasser des Schwimmbads stand bewegungslos in der Dunkelheit, durchzogen von flüchtigen
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