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Sich lieben

Sich lieben

Titel: Sich lieben
Autoren: Jean-Philippe Toussaint
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Lichtschimmern und wechselnden Reflexen. So im Halbdämmer erstarrt, sah es aus wie geschmolzenes Blei, Quecksilber oder Lava, schien wie seit Ewigkeiten da zu ruhen, zweihundert Meter über dem Meeresspiegel, hin und wieder gingen winzigkleine spontane Kräusel darüber hinweg, wie fröstelnde Haut. Um mich kein Lufthauch, nicht das geringste Geräusch von am Beckenrand anschlagendem Wasser. Längs der Fensterfront standen Liegestühle aus durchbrochenem weißen Plastik, nicht alle aufgeklappt, einige noch zusammengelegt, in einer Ecke abgestellt mit anderen zusammengeklappten Strandstühlen, Sonnenschirmen, Rettungsringen, Schaumgummibrettern. Im Umkreis des Beckens war es sehr warm, fast schwül, und in den umherwabernden Dämpfen hing der Geruch von parfümiertem Reinigungsmittel, ein übler Duft nach Andropogon, Ammoniak und Amber. An den Ecken des Beckens standen Holzkästen für Grünpflanzen, Inseln tropischer Vegetation im Dunkeln, hochaufgerichteter Bambus, dessen Halme an den Fenstern hochwuchsen, riesige Farnblätter, die aus den Pflanzenkästen hingen und sich sanft auf die Fliesen bogen. Kein Laut war im Schwimmbad zu hören. Ich ging langsam am Becken entlang, den Blick nach oben gerichtet zum großen beweglichen Glasdach, wo zwischen dem Metallgerüst der gestirnte Himmel zu sehen war. Auf der anderen Seite des Beckens angekommen, ging ich geräuschlos bis zur Glaswand und begann, stumm die vor meinen Augen schlafende Stadt zu betrachten.
    Nachts von oben betrachtet, scheint die Erde zuweilen etwas von ihrer ursprünglichen Natur wiederzufinden, stärker in Einklang zu stehen mit dem wilden Zustand des uranfänglichen Weltalls, ähnlich den unbewohnten Planeten, den in der Grenzenlosigkeit der kosmischen Räume verlorenen Kometen und Sternen, und dieses Bild vermittelte jetzt Tokio hinter der Glasfront des Schwimmbads, das einer im Herzen des Weltalls eingeschlafenen Stadt, übersät mit rätselhaften Lichtern, Neonröhren und Straßenlaternen, Schildern, Beleuchtungen der Straßen und Hauptverkehrswege, der Brücken, Bahnlinien, Stadtautobahnen und netzförmig ineinanderverwobenen Hochstraßen, ein Glitzern von Juwelen und Armbändern aus Lichterketten, Girlanden und gebrochenen Linien aus goldglänzenden Punkten, die häufig nur winzig waren, ununterbrochen leuchtend oder flimmernd, nah wie fern, rote Signale der Funkfeuer, die auf den Spitzen der Antennen und an den Dachecken in der Nacht blinkten. Ich betrachtete hinter der Glasfront die riesige Ausdehnung der Stadt, und mir war, als hätte ich die Erde selbst vor meinen Augen, in ihrer konvexen Krümmung und zeitlosen Nacktheit, als entdeckte ich vom Weltraum aus dieses in Nebel getauchte Relief, und flüchtig wurde mir da mein Dasein auf der Erdoberfläche bewußt, ein flüchtiger und intuitiver Eindruck, der in dem süßlich-faden metaphysischen Schwindel, in dem ich taumelte, mir konkret zur Darstellung brachte, daß ich mich in diesem Augenblick irgendwo im Weltall befand.
    Jenseits der ersten erhellten Fassaden dehnte das gesamte Viertel von Shinjuku sein Schattenprofil in der Nacht vor mir aus. Auf der Linken waren die waagerecht verlaufenden weitläufigen Zonen, fast vollständig in Finsternis getaucht, zu sehen, dann die riesige Lücke aus dunklem Grün des Kaiserpalasts mitten in der Stadt, undeutbar und undurchdringlich, und zum Meer hin, am Horizont, über Shimbashi und Ginza hinaus, die offene See und die Gischt, die Bucht von Tokio und der Pazifik, dessen dunkle Gewässer sich an der Grenze von visueller Schärfe und Einbildungskraft verloren. Ich stand da im Dämmerlicht vor der Glasfront des Schwimmbads im 27. Stockwerk des Hotels, und hochoben von dieser Senkrechten von nahezu 200 Metern, die die Stadt überragte, aufrecht stehend auf dieser privilegierten Landspitze, die direkt ins Leere führte, betrachtete ich Tokio, das sich endlos vor mir ausdehnte und vor meinen Augen die riesige Fläche seines grenzenlosen Ballungsraums entfaltete. Ich spürte auf einmal, wie die Erde erneut zu erzittern begann, wie einige Stunden zuvor, als wir ins Hotel zurückgekehrt waren, und ich dachte bei mir, daß der Stoß, den wir vorhin gespürt hatten, wie alle durch unsere Sinne wahrgenommenen Erdstöße berechtigterweise als Vorzeichen eines viel stärkeren Stoßes gedeutet werden konnte, der seinerseits ein starkes, und warum nicht, ein sehr starkes, das stärkste Erdbeben ankündigen könnte, das berühmt-berüchtigte Big one , das von allen
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