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Sich lieben

Sich lieben

Titel: Sich lieben
Autoren: Jean-Philippe Toussaint
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im stürmisch-bewegten Lauf unseres Lebens flossen, Tränen der Traurigkeit und der Liebe, der Trauer und der Befremdung. Um sie herum schienen diese Kleider wie zu einer Vorführung angetreten, steif und bewegungslos in ihren durchsichtigen Hüllen, herausgeputzt, stolz, mit tiefem Ausschnitt, verführerisch und bunt, amarantrot, fleischrot hingen sie an Schranktüren oder auf Behelfsbügeln, waren aufgereiht an den zwei Reiseständern, die sie im Hotelzimmer wie in einer improvisierten Theaterloge aufgestellt hatte, oder lagen einfach nur säuberlich auf Stühlen und Sessellehnen. Ich betrachtete im Halbdunkel des Zimmers alle diese körperlosen, in allen Farben des Feuers und der Finsternis schimmernden Kleider, die um ihren halbnackten Körper einen Kreis zu bilden schienen, und müde, wie ich war, ja, auch ich – sehr müde jetzt, wie zerschlagen von der Zeitverschiebung –, dachte ich erneut an meine kleine Flasche mit Salzsäure, die in meinem Kulturbeutel lag.
    Als ich packte, hatte ich mich gefragt, wie ich diese Flasche Salzsäure mit nach Japan nehmen sollte. Es war natürlich ein Ding der Unmöglichkeit, sie während der Reise bei mir zu tragen, beim Anbordgehen oder beim Zoll wäre sie entdeckt worden und ich außerstande gewesen, ihre Herkunft, ihren Sinn und Zweck zu erklären. Andererseits hatte ich auch Angst, sie im Koffer zu lassen, da sie dort zerbrechen konnte und die Säure sich dann über meine ganzen Sachen ergießen würde. Schließlich hatte ich es ohne weitere Vorsichtsmaßnahmen – ihr unauffälliges Aussehen eines Fläschchens Wasserstoffperoxyd war wohl doch die beste Tarnung – in einem der drei flexiblen Seitenfächer meines Kulturbeutels untergebracht, die jeweils durch einen abknöpfbaren Lederriemen abgetrennt waren, zwischen einer Parfumflasche und einem Päckchen Rasierklingen. Mein Kulturbeutel hatte des öfteren schon derart bunt zusammengewürfeltes Zeug beherbergt, Zahnpasta und Nagelzange, Honig und Gewürze, Bargeld in Umschlägen aus Packpapier, ganz zu schweigen von etlichen noch nicht entwickelten Filmen, kleinen schwarzblauen Kompaktrollen Ilford FP4 und schwarzgrünen Ilford FP5, die mehr oder minder heimlich aus diesem und jenem Land herausgebracht werden mußten. Doch ohne irgend jemandes Aufmerksamkeit zu erregen, reiste die kleine Flasche von Paris nach Tokio.
    An jenem Tag, da Marie mir vorschlug, sie nach Japan zu begleiten, begriff ich, daß sie bereit war, auf dieser großen Tour unsere letzten Liebesreserven zu verheizen. War es nicht einfacher, wenn wir uns schon trennen wollten, diese seit langem geplante Reise dafür zu nutzen, wechselseitig ein wenig Distanz zu gewinnen? Zusammen zu verreisen, war das wirklich die beste Möglichkeit, um Schluß zu machen? In bestimmter Hinsicht wohl schon, denn so wie die Nähe uns zerriß, so hätte uns die Ferne wieder nähergebracht. Tatsächlich waren wir in unseren Gefühlen dermaßen zerbrechlich und orientierungslos, daß die Abwesenheit des anderen sicher das einzige war, was uns noch nahebringen konnte, während unser beider Gegenwart Seite an Seite die innere Zerrissenheit nur noch vertiefen und unsere Trennung besiegeln konnte. War ihr das bewußt, als sie mir vorschlug, sie nach Tokio zu begleiten, und hatte sie mich ganz vorsätzlich eingeladen, um Schluß zu machen – ich weiß es nicht, ich glaube es auch nicht. Andererseits argwöhnte ich, daß sie zumindest zwei leicht perverse Hintergedanken hegen mochte, als sie mir vorschlug, sie nach Japan zu begleiten, zum einen, daß sie annahm, ich könnte ihre Einladung ausschlagen (mehrerer Gründe wegen, vor allem aber einem, über den ich jedoch nicht reden möchte), vor allem aber, daß ihr unser jeweiliger Status während dieser Reise nur allzu klar war, sie überhäuft mit Ehrungen, eingedeckt mit Terminen und Arbeit, umgeben von einem Hofstaat von Mitarbeitern, Hostessen und Assistenten, ich ohne Status, in ihrem Schatten, letztlich ihr Begleiter, ihr Gefolge und Geleit.
    Ganz leicht den Kopf hebend, drehte sich Marie in der beweglichen Masse ihrer Kleider, die sich unter dem Gewicht ihres nackten Körpers kräuselten und in Falten legten, träge-lasziv um und bat mich mit sanfter und leicht schläfriger Stimme, ihr etwas zu trinken zu geben, Wasser oder Champagner. Nur das, Wasser oder Champagner, sie hatte schon immer diesen einen Geschmack von exquisiter Schlichtheit, mein Liebling, als wir zum ersten Mal die Nacht miteinander verbracht hatten und ich
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